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Jesus hat bald Geburtstag und freut sich,
wenn ihr an ihn denkt.
https://madrigatha.de/?s=jesus+hat+geburtstag
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Der folgende Text ist dem Büchlein – „Die vier Marksteine“ -von Anita Wolf entnommen. Er steht im Internet, ist frei verfügbar und kann als PDF heruntergeladen und bei Bedarf ausgedruckt werden.
https://anita-wolf.de/wp-content/uploads/2020/07/21-geburt.pdf
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Als Hörbuch auf Youtube
https://www.youtube.com/watch?v=sonkYO9aiYE
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Der erste Markstein:
Die Geburt
Siehe, eine Jungfrau wird schwanger und wird einen Sohn gebären, den wird sie heißen: IMANUEL
Der Rufer des Tempels läßt seine Stimme hell durch die Gassen der kleinen Stadt im nördlichen Judäa erschallen; er ruft zum Abendgebet und befiehlt zugleich Ruhe allem menschlichen Getriebe.
In einem dunkelgemauerten Eckhaus, das nach den Gassen zu keine Fenster, wohl aber eine hohe nicht sehr breite und mit eisernem Klopfer versehene Pforte aufweist, sitzt auf dem hochgezinnten flachen Dach ein junges Mädchen, ‚Kind müßte es richtig heißen; denn die weichen nur leicht gebräunten Züge sind so zart kindhaft, daß niemand sie auf etwa fünfzehn Lenze schätzt. Und doch — wer sich näher mit der reinen jungen Jüdin befaßt, muß mit Erstaunen feststellen, welch ungewöhnlich hoher Geist, Seelentiefe und Herzenskraft dem Gesicht aufgeprägt sind.
Eben geht der Rufer am Hause vorüber, als der eiserne Klopfer erklingt. Aus dem Hofraum hallt eine Stimme zur einsam Sitzenden herauf: „Maria, öffne, ich muß schnell meine Arbeit räumen, es ist schon der Abend gekündet“ Das Mädchen MARIA erhebt sich rasch. Leichte Röte huscht über ihre sanft gerundeten Wangen, sekundenlang nur, dann legen sich dunkle, sammetschwere Wimpern schützend über die Augen, deren tiefes Blau erdenfern und himmelsnah leuchten. Hastig steigt sie die ausgetretene Steinstiege hinab und eilt durch den spärlich erhellten Gang, der die Frauengemächer, die nach der Hofseite zu liegen, von den übrigen Räumen trennt. Sie öffnet die schwere Türe. Das Abendgold der tiefstehenden Sonne wirft ein flüssiges Leuchten in den Torspalt und gibt dem dunklen Flur einen fast feierlichen Schein. Und inmitten des goldenen Himmelslichtes steht schmal, unendlich rein Maria, das Mädchenkind, die Israelitin aus fürstlichem Geschlecht, selbst ein Licht weltfremder Sphären.
Das empfindet der Mann, der Einlaß begehrt, so stark und plötzlich, daß er — entgegen der Sitte — sich über die feine freimütig gebotene Hand beugt. Dabei ist Maria sein Tempelmündel, welches er um einer längeren Baureise willen in ein befreundetes Haus brachte. Wie eine feurige Mohnblüte, so erglüht das Mädchen, denn ungewohnt ist diese Handlung. Sie verehrt den alternden Mann wie jenen hier im Hause, den sie Vater nennt, liebt ihn wie die Gütige, die ihr Mutter ist.
„Du kommst spät, Vater Josef“, sagt sie und fügt — um ihre Verwirrung zu verbergen — hinzu: „Geh zum Hausvater, er ist noch an seiner Arbeit. Später bitten wir zum Nachtmahl“ Damit wendet sie sich um und läuft aufs Dach zurück. Wie eine Flucht ist es, das Laufen. Droben setzt sie sich auf ihren Hocker, birgt ihr glühendes Gesicht in beide Hände und große Tränen fallen lautlos zwischen den feinen Fingern hindurch auf die roten Dach fliesen. Warum weint meine Seele? fragt sie sich. Was habe ich mit diesem Mann zu schaffen, dem ich vom Tempel aus zugesprochen wurde und der mehr als fünfzig Jahre älter ist als ich? Ja, ich liebe ihn. Aber weiß ich was Liebe ist? So, wie meine Freundin Rebekka an ihrem Jacobe hängt? ich weiß es nicht; ich verehre ihn, er ist einer unserer angesehensten Väter. Unter seinem Schutze möchte ich immerfort bleiben. Aber wie? — Wie kann das geschehen? — Tief seufzt sie auf und ist ratlos.
Sie erhebt sich. Es dunkelt schnell; in violettwarmer Farbe senkt sich die Nacht über Judäa. Bald aber steigt kühler Hauch auf. Maria kniet am Schemel nieder, legt ihre Stirn in die gefalteten Hände und betet: „Gott meiner Väter, Du Wahrhaftiger über der Erde, groß ist Deine Güte und allmächtig bist Du über allen Menschen. Du hast mein Volk aus Ägypten gerettet, wunderbar aus Babylon geführt, da es lange gefangen saß; durch die große Wüste hast Du es geleitet und Manna regnen lassen. Große Propheten schenktest Du ihm und Leute, die aus Deinem Geiste sprachen. Und uns, o Herr, hast Du den ‚Messias‘ verheißen, der Dein Volk von den Händen der Unterdrückung erlösen soll. Ach — Du hast mein Herz erkannt; und bin ich auch nur eine armselige Magd, so senktest Du, o Gott, doch Dein Angesicht über mich und Deine Augen schauen auf meinen Weg. Lange ist es her, daß Du mir Engel zu Gespielen sandtest; jetzt warte ich vergeblich auf die frohen Boten Deines Reichs. Und was der letzte Engel am Brunnen mir kundtat, ich weiß nicht, o Herr, was es bedeutet. Warum muß ich des Lichtes und der Erkenntnis entbehren? Darf ich Josef nicht lieben und verehren, wie diese Eltern, die Du mir gabst, daß Ich auf Erden nicht ohne Vater- und Mutterliebe sein brauche? Zeige mir den guten Weg, daß ich vor Deinem Angesicht wandeln kann, unter Deinem Schutz und Schirm stehe, Du Höchster, Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs. Offenbare bald Dein Reich und sende uns Deinen Messias!“
Nahende Schritte unterbrechen das Gebet, Ehe sie sich erheben kann, liegt die Hand einer Frau auf ihrer Schulter. Auch sie ist aus fürstlichem, wenngleich nicht aus Davids Geschlecht wie Maria. Und sie liebt das Kind, das ihr wie eine Tochter gegeben wurde, wenn auch nur für kürzere Zeit. Darum mahnt sie mit echter Mütterlichkeit indem sie spricht: „Kind, du bist so lange nach Sonnenuntergang auf dem Dache; es ist zu kühl für dich, auch erwartete ich deine Hilfe. Wir haben einen Gast.“
„Verzeih!“ Bittend schmiegt Maria sich an die Frau. „Aber siehe, ich mußte um unsern Messias beten.“
„Was du nur hast; du bist allzu templerisch erzogen worden und der Vater — ich will nicht rechten — aber er macht vollends aus dir einen Gelehrten, nur keine echte Israelitin.“
„Zürne nicht, Mutter! Ist es kein echtes Israelitentum, um den Messias zu beten, daß Er bald komme, unser Volk vom fremden Joch zu befreien?“
„Von den Römern?“ Die stolze Frau reckt sich in den Schultern. „Das sind Gespräche, die nur Männer angehen, wir Frauen haben daran keinen Anteil; und — es ist gut.“
„Nein“, wagt Maria zu widersprechen, „es ist nicht gut! Im Tempel hörte Ich viel. Unser Volk hat wenig Frauen, Ruth, Debora und andere, die vom Kampf, vom Leben des Volkes wußten und in vorderen Reihen standen. In unsern Frauen liegt größere Kraft als Männer ahnen. Würde diese durch die Söhne dem Volke geschenkt, königlich könnte Juda vor Rom und Byzanz stehen! Daß wir Frauen nichts andres sein dürfen als untengeordnete Hüterinnen des engen Hauses, nimmt unserm Volk die beste Kraft.“
„O Gott unserer Väter, vergib die lästerlichen Reden dieses Kindes“, zetert die Jüdin und schlägt die Hände seufzend zusammen.
„Wieso lästerlich?“ Eine warme Männerstimme fragt es. Die beiden Frauen hatten den Hausherrn und Gast nicht kommen hören. „Dieses Kind hat mehr Weisheit, mehr Erkenntnis als alle Männer Israels, den Hohenpriester ausgenommen“, spricht Josef, „Darum hat es auch mehr Liebe. Nur wer brennenden Herzens des Messias harret, liebt sein Volk, Nächste, Freunde und Familie. Der Messias befreit uns vom schweren Joch.“
„Von den Römern?“ Nochmals die strenge Frage aus herbem Frauenmunde, sonderbar betont.
„Warum willst du zweifeln?“ Ernst verweisend, doch liebevoll mischt der Hausherr sich in das Gespräch. Die Jüdin zuckt nur die Schultern. Weiß auch sie mehr, als eine Frau aus dem Hause Juda wissen darf? Hat sie vielleicht schon viele Jahre einen einsamen, darum vergeblichen Kampf gegen die Entwürdigung, gegen Entrechtung, gegen geistige Versklavung der Frau gekämpft? Niemand ahnt davon; der stolze Mund versteht zu schweigen.
„Kommt“, sagt sie nur und schreitet elastisch voraus, „das Mahl steht bereit.“ Während sie die Treppe hinabsteigen, muß Maria die Frage bedenken. Was heißt das? Warum soll der Messias das Volk nicht vom Römerjoch befreien, wie sie es geheim im Tempel hörte? Steht nicht geschrieben: ‚Und Er wird Sein Volk selig machen‘? Kann etwas anderes darunter verstanden werden als das das ganze Volk beseligende Gefühl: ‚Frei von Rom‘? Oder . . . Marias Gedanken sind unterbrochen. Eine Dienerin trägt das Mahl auf. In diesem Hause gibt es keine Sklaven. Führt der Hausherr die armen Geschöpfe nach Kauf oder Erwerb herein und haben die Schwelle überschritten, sind sie Kinder des Hauses — frei, ja sie können sogar frei von dannen gehen, was freilich bisher nie geschah. O, wie verehrt sie deshalb die Hauseltern, wie um vieler Dinge, die wenige Landsleute so tun. Andächtig hört sie dem Gespräch der Männer zu; auch die Hausfrau schweigt, wie die strenge Sitte es fordert.
Hin und her geht die Ansicht über den erwarteten Messias. Josef sieht das kommende Ereignis geistiger an als der Hausherr, wenngleich auch er die Wahrheit nicht weiß. Er sagt: „Es steht geschrieben: ‚Uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und die Herrschaft ist auf Seiner Schulter; und Er heißt Wunderbar Rat, Kraft, Held, Ewig Friede-Fürst.“ (Jes. 9, 5).
„Soll das ausschließen, daß der Messias uns von den heidnischen Römern befreit?“ Die Frage verlangt keine Bejahung; sie ist es schon durch die Art ihrer Betonung. Er fügt hinzu: „Und es steht geschrieben, daß Er ein Herold sein wird, ein Herzog, der vor dem Volk einherwandelt. — Einen König werden wir haben, der alle heidnischen Throne zerbricht!“ (Micha 5, 1) Heiß strahlen die dunklen, glutvollen Augen auf und forschen auch in den reinen Zügen des Kindes, ob ihm Bestätigung wird. — Heute aber erhält er keine stille Antwort wie bisher, seit Maria als Gastkind unter seinem Dache weilt. Nein, wie geistesabwesend sitzt sie ihm gegenüber, so sonderlich bleich und still. Als Josef das Gespräch fortsetzen will, erhebt sie sich, sichtbar wie von fremder Kraft getrieben. Ihre rechte Hand deutet in eine Ferne, deren Dasein völlig unbekannt ist. Fremd klingt ihre Stimme, als sie spricht:
„Er wird kommen selig zu machen die Guten, die Bösen zu richten! Er aber kommt aus Seinem Reich und wird dahin zurückkehren Die Seine Stimme vernehmen und Ihm nachfolgen, wird Er in Sein Reich führen, das nicht von dieser Welt ist!“ Alle sind über diese Worte entsetzt. Die Mutter weint. Ist das Kind plötzlich krank geworden? Hat es nicht von frühester Jugend auf sittsam im Tempel gelebt, oft mit Engeln gespielt, daß es eine Lust war, Zuzuschauen? Ist es nicht wie ihr Kind? Warum widerfährt ihrem geachteten Hause eine solche Zuchtrute Jehovas? Auch der Vater ist sprachlos, wälzt ähnliche Gedanken im Innern und macht sich bittere Vorwürfe, den Tempelgeist weiter geschürt statt eingedämmt zu haben. „O, mein Kind“, ruft er endlich aus, „wie kommt dir solcher Gedanke? Weißt du nicht, wie sehnsüchtig ich und das Volk des Messias warten, wie er verheißen ist, daß Er unser Juda wieder groß mache vor allen Völkern der Erde?“
„Ihr wartet vergeblich dieses Messias!“ Streng fallen die Worte aus jungem Munde. Der da kommt, ist ein König an Innerer Macht und großer Herrlichkeit aus dem Geiste Gottes!“ Nach diesen prophetischen Worten lastet lange unheimliches Schweigen über den vier Menschen. Die Mutter ist tief erschüttert; sie denkt anders, als der materiell gewordene Glaube des Volkes. Aber so wie dieses Kind —? Nein, soweit ist ihre Erkenntnis noch nicht herangereift. Und es ist die Art der Prophetie, die sie weit mehr um das körperliche Befinden bangen läßt als um die feine empfindsame Seele des Mädchens.
Ganz anders Josef! Nachdem seine erste Verwirrung vorüber ist, schaut er staunenden Auges zu Maria hinüber. Ach, wie hat sie recht, die junge Seherin! Das ist die wahre Auslegung uralter Prophetie, wie sie nicht nur dem Volke, sondern auch den Priestern verlorenging. Wie möchte er die fremde Blume hüten und schützen. Aber ist er dazu geeignet? Er wird sie wieder in sein Haus bringen, denn sie ist ihm vom Tempel anvertraut. Allein — genügt der Hausschutz, um das reine Herz zu hüten?
Der Hausherr ist voller Zwiespalt. Gewiß, er haßt die materiell ausgelegte Messiasverkündigung; aber daß der König kommt, den Thron Davids, die jahrtausendalte Dynastie aus Abrahams Samen aufzurichten, Israel größer zu machen als zu Salomos glanzvollster Zeit, die Gewaltdiktatur Roms zu zerbrechen, alle Heiden zu stürzen, das glaubt er felsenfest. Nur in der großen politischen Weltverankerung des Hauses David wird der König ein Herrscher aller Königreiche werden, sein und bleiben. Es gibt keinen König ohne Volk und kein zur Welt und Lichtmacht gelangendes Volk ohne König! So ist seine Ansicht.
Bei diesem Gedanken angekommen, schiebt er die Prophetie als eine Phantasterei zur Seite. Schade, das Kind war so begabt wie kein erster Sohn Jerusalems. Die alten vergilbten Schriftrollen las es, wie ein Vorleser des Tempels es nicht besser vermochte. Er spürt, daß Maria mit diesem Ereignis in ein anderes Gedankenlager übergegangen ist; fast empfindet er, als sei sie zum Feinde übergelaufen. Um so heftiger lehnt er das Gehörte ab, als Josef dafür wiederholt eintritt.
Maria erhebt sich. Deutlich spürt sie, daß sie Abschied nehmen muß vom Herzen dieses Mannes, der ihr ein echter Vater war. Vielleicht auch von der Mutter; und sie ist tränenmüde. Man läßt sie gehen. Auch die Frau erhebt sich, nachdem die Magd noch Brot, Früchte und Wein für die Männer bereitstellte. Sie ist in Aufruhr. Vor die höchsten Söhne des Landes durfte man für Maria fordernd, keineswegs bittend treten, und auch ihrem Hause wäre Glanz und Ruhm zuteil geworden. Nun muß sie alle hochfliegenden Pläne fallen lassen, denn Maria ist krank, so denkt sie. — Des Herrn Wege kennt sie nicht.
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Schwer drückt alles auf Maria, als sie in ihrem kleinen, vornehm ausgestatteten Gemach das Ruhelager aufsucht. Und doch ist sie mit Dank und Jubel angefüllt, auch weil Josef kam. Sie hat seine innere Zustimmung gespürt, die ihr wie eine Hülle war, den ein Unsichtbarer um sie legte; denn die Ratlosigkeit über alles Irdische griff mit rauher, häßlicher Hand nach ihrem Frieden. Sie betet. Dem Gott ihres Volkes schüttet sie das gequälte Herz aus und weiß doch nun plötzlich, daß es ein ganz anderer Gott für sie geworden ist als der Tempel lehrt. Rein, kindlich ist ihre Bitte; und wieder fühlt sie den Unsichtbaren, der den Mantel des Friedens, der Ruhe über sie breitet. Beseligt schläft sie ein, nichts ahnend von dem, was indessen über Ihr äußeres Leben verhandelt wird. — Die beiden Männer sitzen sich lange schweigend gegenüber.
Jetzt schaut der Hausherr aus tiefem Sinnen auf. „Was soll mit Maria geschehen? Willst du sie wieder zu dir nehmen, wie es dein Tempelrecht ist? Ich kenne die Anzeichen. Eines Tages wird es schlimmer und man nennt die Krankheit ‚Besessensein’.“ Schmerzlich seufzt er auf.
„So ist es aber doch nicht“, entgegnet Josef ruhig, vielleicht ein gut Teil mehr äußerlich als innerlich „Es ist uns eine große Gnade widerfahren, deren die Templer schwerlich je teilhaftig werden. Und ich – ich halte für Wahrheit, was uns verkündet ward.“
„Schön“, der Hausherr mäßigt nur schwer Zorn und Wider streit, „mögen die Templer Gnade empfangen oder nicht; meine Freunde kann ich sie ohnehin kaum heißen, ich, der Schulen Oberer einer, im Tempel selbst eine angesehenste Stimme. Aber das Volk, was hat es mit der hohen Priesterbrut gemein? Hat der Gott unserer alten Väter nicht dasselbe sichtbar geführt und es immer aus Feindeshand errettet? Und hat Er nicht verheißen, daß Er den Samen unserer Väter segnen will bis ans Ende aller Tage?! Uns, uns allein soll der König aller Könige kommen!“ Heftig schlägt der Oberste sich auf die Brust, wühlt wild im Barte und stürzt schließlich einen vollen Becher Wein hinab.
„Du hast nur bedingt recht“, spricht Josef, „weil du nur jene Worte der Weissagungen wählst, die deine Ansicht bestärken können. Wenn du aber meinst, das Volk sei besser als die Templer, so irrst du. Ich war in Jerusalem. Gehe hin auf die Märkte und Gassen und sieh dir die Buhlschaft an! Sie buhlen nicht nur um ihre Leiber, weit mehr um die Gunst der Unbeschnittenen. Sie halten Freundschaft mit jedem Fremdling um klingende Münze, sie schachern um Macht, Ihre Weltherrschaftsgelüste sind lasterhaft geworden. Es geht schon soweit, daß an allen Ecken zugedeckte Flammen schwellen; es bedarf nur eines Funkens und ein Tränenbad wird entfesselt, wie die Erde noch nie es sah! Geh nach Joppe oder besser nach Caesarea Philippi und sieh dir den zum Mischung gewordenen Samen Abrahams an! Solltest du als einer unserer höchsten Oberen es nicht wissen? Ja, und dann schlage auf, wo geschrieben steht: ‚Das Gras verdorrt, ja, das Volk ist das Gras. Solchen Stellen schenktest du nie Beachtung!“
„Wenn du recht hättest, wie willst du es mit dem Kommen des Messias vereinbaren?“ „Überhaupt nicht“, erklärt Josef sachlich. „Der Himmel liegt auf dem Berge Hebron, daß du dessen Spitze manchmal nicht siehst. Steige aber hinauf auf den Berg, versuche den Himmel zu fassen; es dünkt mich, du würdest vergeblich nach ihm greifen.“
„Was hat das mit dem Messias zu tun?“ Eine ungeduldige Frage. „Was es damit zu tun hat fragst du noch? Merktest du nicht, daß von einem geistigen Kommen des Erwarteten die Rede war? Ja — Er wird den Himmel in Sich tragen und auf das Volk legen, wie die Wolken auf dem Berge Hebron liegen. Wer will diesen Himmel fassen, wenn unsere Herzen der Welt gehören? Seine Botschaft, die Er uns zu künden hat, ist allen denen ein Tod, die aus dem Himmel eine Erde, aus dem Reich des Friedens, das Er bringen will und wird, eine geld- und machtpolitische Herrschaft machen wollen!
Würde der uns verheißene Messias in der Art kommen, wie das Volk es erträumt und die Templer wünschen, wahrlich, es hätte keines Elias und Jesaja, weder Jeremias noch sonstiger Propheten bedurft. Ein solcher König braucht keine jahrtausendalte Vorher-Verkündigung; der kommt von allein! Solcher Art Herrscher hat es viele gegeben. Und keiner wurde vorher verkündet, keiner konnte ein ewiges Reich gründen, nicht einmal Salomo. Und wird ihrer Namen gedacht, dann größtenteils mit Grauen. DER König aber, den wir erwarten, den David als ‚Seinen Herrn‘ besang, den Maria richtig erkannte, dieser König wird schwerlich mit äußerem Weltgepränge kommen; denn Sein ist das Reich himmlischer Macht und Herrlichkeit! Es würde mir nunmehr zu glauben schwerfallen, da ich durch Maria zur besseren Erkenntnis kam, daß der Heilige Sein ewiges Gut um eine armselige irdische Königshabe eintauscht.“
„Wie du sprichst!“ Der Obere seufzt nach langer Pause, die Josef nicht verkürzt. „Wenn du das sagst, Freund Josef, so mag man wohl dran denken, deine Worte zu prüfen. Da du aber nur durch Maria zu dieser Ansicht gelangtest, ist es Zeitvergeudung, sich damit zu befassen.“
„Weil eine reine Jungfrau es sagte? Dem Josef steigt eine Hitzewelle zu Kopf. „Du, wir alle, ungezählte Menschen werden einmal an eine Frau glauben, durch die uns Köstlichstes geschenkt wurde!“
„Aber nicht Maria wird es sein Sarkastisch klingt die Erwiderung.
„Maria . . .“ Josef spricht den Namen leise aus und fragt besorgt: „Was wird nun mit Maria?“
„Weiß ich das jetzt schon? Sie wird für einen Mann unserer Fürstenhäuser untauglich sein.“
Wie ungerecht, muß Josef denken. Erst zärtlich, ja stolz im Tempel bewacht, ihm gerade von diesem Manne mit besonderer Mahnung übergeben. Nun aber? Soll Maria achtlos zur Seite geschoben werden? Von fremder Macht wird er getrieben und spricht: „Gib mir Maria.“ Horchend schaut der Hausherr auf. Was liegt in der Frage? Er ist vorsichtig.
Du weißt, daß Maria vom Tempel aus dir zusteht, du kannst sie morgen holen.“ Noch besorgter wird Josef, drängender die innere Stimme.
„Nicht so“, bittend und begütigend zugleich legt er eine Hand auf des Freundes Arm. „Ich weiß, daß ich Maria zu mir nehmen muß, der Tempel will es, obwohl ich um meiner Söhne willen sie lieber noch eine Zeit hier gelassen hätte. Darum brachte ich sie ja der Reise wegen zu dir, zumal du ihr Vormund bist. Nun aber ist alles anders geworden. Maria braucht mehr als nur einen ‚Hausschutz‘. Ich selbst will sie hüten wie einen meiner Augäpfel, ja — wie alle beide.“
„Ach, so meinst du?“ Lang gedehnt ist die kleine Frage. „Hättest du dieses Wort ausgesprochen, wenn Maria nicht diesen dummen Anfall gehabt hätte?“
„Schwerlich.“ Offen bekennt es Josef. „Ich dürfte die junge Blüte nicht einem absterbenden Stamme anheften. Was du freilich als ‚dummen Antall‘ bezeichnest, ist für mich die selten wahre und heilige Enthüllung eines Geheimnisses. Und darum, auch weil es mich sonderbar drängt, habe ich den Mut, Maria zu nehmen.“
„Du liebst sie?“ Nicht ohne Spott ist es gefragt. Josef läßt das ruhig über sich ergehen, deutet aber auf seinen grauen Bart, sprechend: „Nicht, wie wohl ein Mann ein Weib lieben würde, so jung und schön, so daß er weder an ihre noch an seine eigene Seele dächte, sondern nur an sein Blut. So nicht, bei dem Gott unserer Väter! Aber sieh, wenn jetzt ein Engel käme, müßte ich ihn nicht auch lieben? Und so — vielleicht so liebe ich Maria, ich werde sie nie antasten!“ Lange grübelt der Oberste. Wäre es nicht gut, sagte er ja? Kann er für Maria noch etwas tun? Er spürt nicht, daß auch er einem gewaltigen Einfluß des gleichen Unsichtbaren untersteht, der vordem Mariens Mund öffnete und Josephs Herz anrührte. Zögernd streckt er seine Rechte über den Tisch Josef entgegen. „Du müßtest den Tempel fragen. Ich allein kann nicht entscheiden, im Rat kann ich meine Stimme gehen. Von mir erhältst du sie rein zurück.“ Er ahnt nicht, daß Maria, schon seit dem Tage am Brunnen erwählt ist.
Josef dankt und verläßt das Haus, aus dem er ein Geschenk entnahm, von dem er weder Hülle noch Inhalt kennt. Gewiß, er ist beglückt und murmelt: „O du Rose von Hebron, du Lilie aus dem Tal Gilgath, kein Mensch ahnt, was Schönes mir der Gott unserer Väter gab.“ Mit reinem Herzen spricht es Josef, nur an den Messias denkend. — — In der Herberge, in der er bis morgen bleiben will, um dann mit Maria heimzukehren, hat er doch Bedenken: „Was soll ich alter Mann mit dem Kinde — — ?“
Maria wacht auf. Sie hat sonderbar geträumt. An einem herrlichen Gebäude stand sie, königlich auf hohem Hügel errichtet. Seine Mauern glänzten wie Glas, alabasterweiß die vierundzwanzig Säulen, die es zugleich stützten und schmückten. Vier weitgedehnte Tore führten ins Innere. Als sie an einem der Tore angelangt war, traten zwei Gestalten heraus, angetan mit weißen Gewändern, silbergeschmückt mit Sternen, Zeichen, Gürteln und Schuhen. Beide verneigten sich vor ihr, erfaßten ihre Hände und führten sie durch ein inneres Tor über einen herrlich Teppich. Als sie eintraten, blendete sie Licht und Glanz, so daß sie unwillkürlich stehen blieb. Allmählich konnte sie schauen und sah einen weiten hohen Raum, dessen Grenzen sie nicht erfaßte. Im Innern an den gleich herrlichen wie Kristall schimmernden Wänden sieben Alabastersäulen. Mehr im Hintergrund, sichtlich dennoch wie im Zentralpunkt des Raumes, bildeten vier Säulen einen besonderen erhöhten Platz. Die Säulen stützten eine Kuppel und waren mit vielerlei Zeichen bedeckt; sie standen auf goldenen Löwenfüßen. Unter der Kuppel vereinigten sie sich und es hing, unsichtbar von ihnen gehalten, eine Sonne herab. Nie wird Maria fähig sein, ihren Glanz zu beschreiben. — Sichtbar aber waren vier goldene Ketten, von den Säulen aus gehend, an denen eine Opferschale hing. Diese schwebte über einem hellen, klaren Feuer, brennend auf einem silbernen Teller. Derselbe stand inmitten eines altarähnlichen Tisches, in der Form etwa der Bundeslade. Es war der Heilige Herd. Denn wohin ihr Auge fiel, sprach einer der zwei Führer und nannte den Gegenstand. — Was war der Salomonische Tempel in aller irdischen Pracht und Herrlichkeit gegenüber diesem Ewigkeitsdom? Jener konnte keinen Vergleich aushalten. Und die vielen Scharen in endloser Folge, unbeschreiblich in ihrem lichten Glanz! Alle haben sich vor ihr verneigt, als sie durch ihre Reihen schritt.
Verwirrt schaute sie ihre Führer an. Die lächelten und der mit dem Kronzeichen legte einen Arm um ihre Schulter. So geleitete man sie durch den Raum, wobei ihr der Weg wie unendlich vorkam. Sie befand sich nun vor dem Altarherd. Um diesen standen vier besonders große Lichtgestalten, ähnlich ihren Führern, zu denen sich fünf weitere gesellt hatten. Als sie dessen und vielem mehr inne geworden war, da erschien hinter dem Heiligen Herd ein allerhellstes Licht. Es nahm zu an Strahlkraft und Schein, verdichtete sich allmählich wie zu einer Form, so das bisher Verborgene nun offenbarend.
Bald wurde ein Antlitz sichtbar, eine heilig-hehre Gestalt. Maria erstarrte vollends. War es Schreck, Angst oder Ehrfurcht? Sie wußte es nicht, konnte das im Herzen sich regende Gefühl nicht erklären. Große Scheu ließ sie erzittern. Es umgaben sie aber die Sieben und andere; und der sie geführt hatte, trat hinter sie, ihr Schutz und Stärke gebend. Indessen war das Bild ihrem Auge vollständig sichtbar geworden. Sie sah hinter dem Herd einen mächtigen Stuhl, darauf saß Einer, von Dem sie sofort wußte: Das ist Gott! Der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs! Dennoch war es ein ganz anderer Gott nun als jener, den sie sich auf Grund Priesterbelehrung kindlich vorgestellt hatte. Den Unterschied darzutun, wäre sie nie in der Lage. Jetzt, im Wachen, da sie sich dessen erinnert, kommt ihr des großen Mose Wort:
‚Ihr sollt euch kein Bildnis machen!‘ Ja, Gott, der Herr, ist heilig!
— Und nun weiß sie auch, warum man sich kein Bild machen soll. Es wäre immer eine vergebliche Mühe, den Heiligen, wie sie Ihn sehen durfte, bildhaft darzustellen.
Unwillkürlich einem geheimen Zwange folgend, hatte sie sich niedergekniet, im Augenblick mit ihr die sieben Mächtigen, die vier Großen und alle Lichtscharen Heilige Stille herrschte im Dom. Ja, sie hatte das Gefühl als ob diese erhabene Ruhe über dem unendlichen All ausgebreitet lag. Und nun — Maria zittert jetzt noch, als sie des Weiteren gedenkt — war Gott von Seinem Throne aufgestanden, um den Herd geschritten und hatte sie hochgehoben, an Sein Herz gedrückt und war mit ihr, sie tragend, zu Seinem Stuhl zurückgegangen. Als ein beseligtes Kind ruhte sie im Schoß der Allmacht, des Vaters. Aber erst die Worte! Bei der Anrede war sie erschrocken, glaubte sie doch, verwechselt worden zu sein, was in diesem Lichte ja ein Unding war. Und also sprach Gott zu ihr:
„Pura, Mein Kind! Über dir wachen Meine Augen und Meine Hände halten dein Leben. Ungezählte Lichtkinder stehen zu deinen Diensten bereit; denn die Hölle möchte dich vernichten, weil sie deine Erwählung sieht, Meine Liebe unter deinem Herzen zu tragen. Du ahnst nicht, was das zu bedeuten hat. Siehe, die Zeit der Finsternis ist gekommen und Ich will, daß Mein Werk besteht! Denn Ich bin UR! Doch bleibt Mir zu tun übrig, Meine Liebe zu opfern, daß Ich Selbst — nur vom Mantel der Liebe umhüllt — den Opferweg gehe. Dazu gehört, daß Ich in Meiner Liebe gleich einem Menschen die Erde betreten und einen Seelenteil der Materie auf Mich nehmen muß, weil so allein Mein Opfer ein vollkommenes, ein UR-Opfer wird!
Das kann nur geschehen auf dem Wege der Ordnungsfolge und Meiner Werkgesetze. Also muß auf Erden aus Meinem Geist ein Kind geboren werden das Träger und Offenbarer Meiner Liebe ist! Dazu bedarf es einer reinen Jungfrau die aus Meinem Geist gebären kann. — Sieh, Pura, zu dieser Mutter Meiner Liebe habe Ich dich ausersehen, dich, Kronträgerin, gerechtes Negativ Meiner Barmherzigkeit! Willst du deine Jungfräulichkeit opfern, um den Samen Meines Heiligen Geistes aufzunehmen, Ihn unter Schmerzen zu gebären, mit noch größeren Schmerzen sterben zu sehen und selbst auch Hohn und Haß der Welt auf dich nehmen? Du kannst damit Evas Sünde tilgen! Denn siehe, du wirst ein Kind haben, aber keinen Sohn; denn der aus dem Kind gewordene Sohn ist bestimmt, der Welt zu gehören, sie zu erlösen und wird daher auch der ‚Menschensohn’ genannt.
Nur kurze Zeit wirst du an Ihm mit mancher Freude Anteil haben; mit dem Leid wirst du freilich stets mit ihm verbunden sein. Aber im Herzen bleibt Er dir wie niemandem sonst auf Erden. Und gleicherweise wirst du Hohn und höchste Verehrung reicher Könige ernten um des Kindes willen, das nicht nach irdischen Gesetzen geboren wird und diesen dennoch unterworfen ist. Ich, UR, Der nicht erst einem Gedanken Worte zu verleihen braucht, Der nicht die Hände ausstrecken muß, um Werke erstehen und vergehen zu lassen, Ich bedarf deiner, Pura, damit das freie Willensgesetz nicht verletzt wird, soll Mein Werk nach Meinem Willen sich erfüllen. Nun sprich, willst du Mir dienen, der Erde ein Kind schenken, das Welterlöser wird, um durch Sein Opfer ein verlorenes Kind wieder heimzubringen?“
Da hatte Maria, die als Pura angesprochen worden war, unter Tränen ein schlichtes ‚Ja‘ gesagt: ‚Ja, Herr, Ich will!‘ Die Rätsel konnte sie nicht lösen, sie weiß auch jetzt nicht ihr Mysterium; nur das brennende Gefühl in der Brust hatte sie zum Ja getrieben, Sie weiß auch nichts mehr von allem, was geschah. Nur zum Schluß die Zeit dazwischen kann sie nicht messen — übergab der Vater sie wieder dem Kronträger, zu dem sie irgendwie gehören mußte. Unter ungeheurem Jubel der Äonen wurde sie aus dem Heiligtum getragen. — — —
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Und nun? —? Ein wenig fröstelnd, denn die Nacht ist kühl und ihre Seele ahnungsschwer, hüllt Maria sich in einen faltenreichen Überwurf. Was ist an dem Traum Wahrheit? Daß der Sohn der Liebe geboren werden muß, steht für sie nach diesem Bilde fest, auch daß eben dieser Liebe der längst verheißene Messias sein wird. Sie hegt keinen Zweifel mehr, daß das kommende Kind ein Welt-Erlöser, ein ‚Sohn aller Menschen‘ ist und nicht der vom fehlgegangenen Judenvolk erwartete Königsmessias, der Befreier von Rom. Aber — wer wird das heilige Kind gebären? Sie —? Ach nein, das ist eine große Täuschung; ja Vermessenheit, frevelhafter Hochmut ist solcher Gedanke. Gott hatte ja von einer Pura gesprochen. Wie kommt sie auf den unsinnigen Gedanken, die Pura zu sein? Nur weil sie den Traum hatte? Das ist ein Wunschbild ihrer Seele. Sie beginnt zu weinen, erhebt sich, wirft sich nieder und schluchzt: „O Gott meiner Väter, wäre es kein Hochmut, wahrlich, mit tausend Freuden wollte ich gleich jener Pura sagen: ‚Ja, Herr, ich will‘! Allein, ich bin eine armselige Magd und kann niemals dessen würdig sein. Bewahre mich vor solchem sündigen Hochmut.“ All ihre heiße heilige Sehnsucht strömt in Tränen dahin. Da erklingt auf einmal neben ihr eine tröstende Stimme, die spricht:
„Maria, weine nicht! Dein Gebet, deine Tränen, Sehnsucht und Demut liegen gleich köstlichen Perlen auf dem Heiligen Herd des Domes. Siehe, ich bringe dir den Frieden des Herrn. Gebenedeiet bist du unter allen Müttern der Erde! Du sollst die ‚Frucht des Heiligen Geistes‘ tragen, und Er wird auf Erden ‚Sohn des Allerhöchsten‘ genannt. Sein Name wird das Erdreich erfüllen, Große und Mächtige erzittern machen, doch Kleine und Arme in himmlische Höhen erheben. Vor Seinem Namen beugen sich alle Geschlechter dieser Welt, weil Er zu ihrem Herrn gesetzt Ist! Man wird um Seinetwillen jubeln und weinen, segnen und fluchen, begnadigen und richten. Dennoch wird man Ihn nie ganz erkennen, noch Seinen Weg verstehen. Seine Worte werden gehört, aber ihr Sinn nicht begriffen; Seine Taten offenbar, allein — kaum werden sie erkannt. Umso gewaltiger wird Er Sein Reich aufrichten, alle Himmel erfassen und die Hölle überwinden. Und wer an Ihn, an Sein Erlösungswerk glaubt, der wird ewig selig sein!“
Schon beim ersten Anruf war Maria, erschrocken und selig beglückt zugleich, aufgesprungen; doch des Himmels Sendung hatte sie sanft auf ihr Lager gebettet und sich nahe auf den Betschemel gesetzt. „Pura“, fragt sie zaghaft, „wer ist Pura, die ich Im Traume sah, an Gottes Herzen liegend? Ich verstehe es alles nicht.“
„Du bist Pura“, sagt Gabriel, „UR hat dich mir zur Seite gestellt, und ewiggesegnete Liebe verbindet uns. Gott nannte dich bei deinem himmlischen Namen. Siehe, du bist erwählt, den Herrn aller Heerscharen zu empfangen. Es ist unendliche Gnade, Pura-Maria — nie wird wieder ein Mensch solcher teilhaftig! Alles aber liegt in jenem Schöpfungsakt, der aus Gnade eine Begnadigung zeitigt, die einmalig ist! Kann überhaupt jemand würdig sein, das Bedeutendste an diesem Schöpfungsakt tragen zu dürfen, so bist du es; denn noch hat die Welt an dir keinen geringsten Anteil gefunden. Rein bist du, wie du vom Himmel kamst, und die Erbsünde der Welt hat dich nicht lastend berührt. Aus dir wird das Licht geboren, der ‚Retter der Welt’, wie ich es dir vor wenigen Tagen am Brunnen kündete.“
Maria lauscht der Botschaft. Zu erdenjung ist sie, um das Mysterium zu begreifen; aber ahnungsschwer spürt sie die Größe dessen, was geschehen soll, auch — wie es ihr ergehen wird. Sie fragt mit leiser Stimme den Engel. Gabriel belehrt sie; und wahrlich, keine Mutter kann zu ihrer Tochter reiner über ein Geburtswalten sprechen als es hier geschieht. Auf ihre Frage, wann aber das alles kommt, antwortet Gabriel mit ernst-seligem Lächeln:
„Pura selig sind wir beide in des Vaters Barmherzigkeit! Siehe, am Brunnen ward dein Leib bereitet; als du aber im heiligen Schoße ruhtest, legte Er Seine Hände auf dich. Du sahest es nicht, dein Haupt ruhte an Seiner Brust. Er hauchte mit Seinem heiligen Munde über dich hin und siehe, so hast du geistig empfangen. Denn der Sohn, der geboren werden soll, ist von URs unendlicher Geduld gezeugt, Er wird als Liebe geboren, Sein Leben wird Barmherzigkeit sein! Nun trägst du den Samen in dir und das Kindlein wird zu Seiner Zeit geboren. Um alles Äußere sorge dich nicht; der Heilige gibt dir eine treue Stütze zur Seite. Du bist reich, sehr reich gesegnet. — Nun muß ich heim zum heiligen Dienst; meine Liebe jedoch bleibt unentwegt bei dir.“ Gabriel küßt sanft Mariens Stirn und ist im Augenblick entschwunden. Zurück bleibt ein traumhaft beglücktes Mädchen, das seine Schritte ins unbekannte Muttertum geht. —
Vom Lager aus, die Hände auf das klopfende Herz gedrückt, suchen ihre Augen in den Sternen, die aus gesegneter Nacht herabstrahlen. Etwas wirr sind ihre Gedanken, sie kann sich keine Vorstellung von dem machen, was sie erlebte. Da — ein aufsprühendes Sternenlicht, ein Gruß des Engels, nein — mehr: der Friede des Höchsten, sie fühlt es schauernd. Gleich einem funkelnden Band fällt es breit zu ihr hernieder und sie wiederholt die Botschaft vom Himmel: Die Lichtflut ist Geduld, ausgegangen vom Allerhöchsten; das Band ist die Liebe, das Kind; und das Ende, die Erde treffend, ist Barmherzigkeit die alle Menschen über die Liebe, über den Menschensohn, ins ewige Vaterhaus zurückträgt. Und dieser ‚Menschen-Liebe-Sohn’ wird mein Kind sein — mein Kind!“ O, welch Jubel, welcher Dank liegt in den zwei Worten, die‘ die jungen Lippen bebend flüstern. Darüber schläft sie noch einmal ein. Ihre Seele schreitet im Traume über reine, weiße Blüten; doch für sie unsichtbar folgt ein Dunkles hinterher.
Ja, graue Not steht am frühen Morgen bereit, sich kalt in ihre Seele einzukrallen, als sie — frohbewegt und selig — das nächtliche Geschehen der Hausmutter erzählt. Diese wird schneebleich. Maria versteht die heftige Erregung nicht, mit der die Jüdin ausruft: „Oh — welche Schmach, was für eine Schande!“ Die Mär vom Ruhen in Gottes Schoß, von der Engels-Botschaft am Brunnen glaubt sie nicht. Maria wird immer verzagter, als die Jüdin zu weinen anhebt.
Durch das laute Zetergeschrei herbeigelockt, tritt der Hausvater ein. Als er alles erfährt, rauft der sonst stille, ruhige Mann sich sein Haar. Zornig schreitet er auf und ab. Nun beginnt auch Maria zu weinen, beteuert ihre Unschuld, will noch einmal alles erzählen, aber man herrscht sie an, zu schweigen. Noch zur selben Stunde wird das mit so großer Elternfreude aufgenommene Kind wie eine Geächtete aus der Türe geführt, ohne Josef abzuwarten. Marias Muhme, auch dem Hause verwandt, bei der sie erst kürzlich weilte, wohnt einsam im Gebirge; dorthin soll sie zunächst gebracht werden, bis der Fall geklärt und der Lump ausfindig gemacht ist, der dem Fürstenhause die Schmach getan. Auf dem viele Stunden währenden Ritt auf zwei Grautieren findet der Erzürnte kein Wort für Maria, die totblaß und im allmählichen Ermüden mehr in ihrem Sattel hängt als sitzt. Und gar keine Ruhepause wird ihr gegönnt. Unaufhaltsam strebt der aufs tiefste Beleidigte vorwärts, sich furchtbar schämend. Muß es nicht heißen, daß in seinem Hause solches geschah — —?
Elisabeths Fuß ist geleitet worden. Ohne Anlaß tritt sie vor das Tor und sieht zwei Reiter den Hügel herauftraben. Jetzt erkennt sie die Ankommenden und eilt ihnen freudig entgegen. Als sie die völlig erschöpfte Maria vom Esel hebt, beginnt ihr Kind — denn sie ist auch schwanger — eigenartig zu hüpfen, daß sie ausruft: „Wie kommt es, daß die Mutter meines Herrn mich heimsucht?“ Zum Entsetzen des Gevatters spricht sie noch viel Sonderbares, bis er unterbricht und stotternd fragt: „Was redest du da, Elisabeth? Weißt du nicht, daß es meinem Hause eine Schmach, dem Geschlecht David eine Schande ist? Und sie“, er deutet auf das Mädchen, „will nichts gewußt haben und faselt Lügen!“ Er berichtet alles, was sich zugetragen hat.
Elisabeth führt, ohne zu antworten, das Kind ins Haus, bettet es nach einem stärkenden Trunk sorgsam zur Ruhe und nachdem sie im Überfluß mütterlicher Besorgtheit noch eine Felldecke brachte, kehrt sie sich dem Manne zu, der inzwischen an einem niederen Tische Platz nahm. Leise spricht sie: „Maria hat auch nichts gewußt von dem, was du meinst. Oder glaubst du, daß sie im Tempel anders als rein erzogen wurde?! Zacharias hatte stets ein besonderes Auge auf sie, du weißt es. — Wie kommt es aber, daß mein Kindlein hüpfte und frohlockte, als ich Maria in meinen Armen hielt? Was dort geboren wird“, mit seherischen Blick und gebieterisch ausgestreckter Hand nach dem Lager hin hat Elisabeth sich erhoben, „das wird der Allerhöchste sein und der Messias heißen, Der Sein Volk selig macht von allen Sünden! Deinem wie meinem Hause kann kein größeres Heil widerfahren! Und daß neidische Nachbarn keinen Schaden anrichten, bleibt Maria bei mir. Es fällt nicht auf, da Josef sie ohnehin holen wollte. Nur hättest du Josef abwarten sollen. Ich aber und mein Haus wollen dem Herrn danken und lobsingen, daß Er Seine Schritte hierher lenkte, denn nun — nun ist der Messias bei mir eingezogen!!“
Verwirrt schaut der Mann drein. Mit Zorn, nur schlecht darunter seine Ungewißheit verbergend, fragt er: „Bist du auch besessen?“
„Ich —?“ leise lächelt Elisabeth. Sie berichtet dem aufhorchenden Schwager ihren Traum von letzter Nacht. Sonderbar, er deckt sich genau mit Mariens Erzählung; nur daß Elisabeth unter den himmlischen Scharen stand, Maria aber wirklich jene war, die im Schoße Gottes ruhte. Was ist wahr? was vernunftmäßig zu glauben? Nein! Er wird zum Gespött des Hauses Israel! Bitter lacht er auf. Elisabeth führt ihn ans offene Fenster, deutet hinauf zum Sternenhimmel — mittlerweile war es Abend geworden — und fragt, ob er die Sterne zählen könne.
„Nein“, zögert er, „aber was hat das . . .“ „Was das mit Maria zu tun hat? Keine Sorge, weder sie noch ich sind krank oder besessen. Aber wir schauen die Herrlichkeit Gottes! Das Volk wird spotten, dein Stamm lachen. Laß sie! Zweimal wird das Volk gezählt, nämlich vom Herrscher der Erde und vom Höchsten des Himmels; der eine zählt die Menschen — der Andere die Stunden, die noch übrig bleiben. Es werden spätere Geschlechter sein — nicht aus unserer Väter irdischem Samen stammend, an Zahl und Zeit gleich den Sternen am Firmament — die lobsingen und jauchzen und die Mutter des Herrn selig preisen als reine, als göttliche Jungfrau. Dann ist Juda kein Volk mehr wie bisher, denn es wird Den nicht anerkennen, Der seiner Erlösung HERR ist! Sie wollen die Macht der Erde — auch du!
„Schweig“, befiehlt sie, als er unterbrechen will, „du meinst es wenigstens wahrhaftig gut. Die Macht des Himmels weisen sie zurück, sie bietet kein goldenes Kalb. Das Volk, das der Messias von allen Sünden selig macht, werden alle Menschen sein, die an Sein Reich des Friedens glauben und darauf hoffen!“ Lautlos begibt sie sich an des Mädchens Lager, als treue Hüterin.
Unbeweglich steht als schwarze Silhouette der Mann am Bogenfenster, in tiefe Gedanken versunken. Wie kommt seine kluge Schwägerin zu solchen Hirngespinsten? Die Frauen hatten aber einen Traum. Josef? Sollte sein Freund . . . nein, unausdenkbar! Dieser ehrliche Israelit hat sich nicht an der Reinheit der Fürstentochter vergriffen. Oder doch? Oder einer seiner Söhne . . ? Und hat er deswegen Maria in kurzen Abständen erst zu Elisabeth, dann zu ihm gebracht, angeblich wegen zweier Baureisen, und hat Maria zu ihren Aussagen bewogen . . ? Doch wie konnte Elisabeth alles wissen? Und sie hätte sich zu keinem Betruge hergegeben, das weiß er genau. Schwer geht sein Atem. Der Mond wirft genügend Licht ins Gemach, er kann die Gesichter der Frauen deutlich erkennen. Auch Elisabeth ist sanft eingeschlummert.
Er betrachtet Maria. Wie klar, ja — wie himmlisch rein ist des Kindes Gesicht, durch den Schlummer und Elisabeths Schutz ganz entspannt. Im Schlafe kann kein Mensch sich verstellen, da treten die innersten seelischen Regungen ungehemmt zutage, er weiß es. Nein — ein solches Gesicht kann nicht lügen! Er setzt sich, bewacht bis zum Morgengrauen die Schläferinnen, sattelt sein Reittier und trabt auf kahlem Höhenwege hinüber nach Jerusalem; er muß mit Zacharias sprechen. Man sagt, er wäre durch ein Gesicht plötzlich stumm geworden. Elisabeth um die Wahrheit des Gerüchts zu fragen, vergaß er. — —
*
Am Morgen, als Maria aus dem Hause geführt wurde, erhebt Josef sich früh. Mancherlei verrichtet er und begibt sich erst am Mittag zu ihr. Wie entsetzt er sich, als er alles von der noch weinenden Jüdin erfährt. Ganz benommen kehrt er um. Nein, so kann er Maria nicht nehmen. Und dann — jäh zuckt er zusammen — er hat Maria vom Tempel rein erhalten, viele Wochen lebte sie in seinem Hause, ehe er sie um seiner Reisen willen fortbrachte. Wird man nicht sagen, daß einer seiner Söhne, oder gar er selbst . . . Wie furchtbar, wie grauenvoll! An den Traum glaubt er trotz aller Gutwilligkeit auch nicht. Bis zum späten Abend treibt es ihn ruhelos umher; fast ist es Mitternacht, als endlich Schlaf auf seinen müden Körper fällt.
Doch im Traum wird ihm die Wahrheit gezeigt. Ein Engel führt ihn dorthin, wo sanft schlummernd Maria ruht, Er sieht Elisabeth, den Freund wachen, mit zweifelnden Gedanken grübelnd; er sieht, wie die dicken Mauern des Hauses sich öffnen, zahllose Scharen leuchtender Engel vom fernen Firmament eine breite Lichtbahn bilden, wie sie sich vor der jugendlichen Schläferin andächtig neigen, und lobsingend und preisend den Himmel hinter sich wieder schließen. — Ein großer Engel ist zurückgeblieben. Josef wagt nicht, ihn anzuschauen, auch blendet ihn der starke Strahl. Als der Engel ihn herbeiwinkt, sagt er demütig: „Mindere deinen Glanz, o Heiliger, ich bin ein sündiger Mensch, dein Licht verzehrt mich.
Hier antwortet der Engel: „Gott allein ist heilig! Ich bin nur ein Hüter Seiner Heiligkeit. Doch mein Glanz muß dich blenden, damit du inne werdest, wie töricht du denkst. Was diese jammervolle Welt als gerecht ansieht, hat vor dem Ewigen Angesicht keinen Bestand; was sie aber verachtet, nimmt der Höchste in Seine heiligen Hände!! Willst du, Josef, zur Seite schieben, was der HERR erkor und sichtlich in dein Haus führte? Sieh, Maria wird einen Sohn gebären, des Namen sollst du JESUS heißen, und Er wird Sein Volk erlösen von allen Sünden und seligmachen. Er wird der Sohn des Allerhöchsten, das Lamm Gottes genannt, das um aller Welt Sünden erwürgt wird. Nicht kommt Er als der erwartete Messias, wie das töricht gewordene Volk wünscht; ER Selbst ist der Allerhöchste und kommt als ‚Heiland und Erlöser‘ in die Welt.
Tue dein Blendwerk ab, Josef, und reinige dich von aller Sünde, denn du sollst dem göttlichen Knaben ein Vater, Maria ein Beschützer sein. Nimm den Hohn der Welt auf dich, siehe, der Herr wird ihn in himmlische Genugtuung umwandeln. Trage die Schande; der Allerhöchste tauscht sie dir in heilige Freude ein. Bürde Mühsal und Last auf deine Schultern; dafür nimmt der Heiland deine Sünden auf Sich und wird dir ein reicher Vergelter werden. Nimm Maria als dein Weib zu dir und sorge dich nicht, der Weg ist geebnet. Denn du empfingst Maria nicht nur aus dem irdischen, nein, vielmehr aus dem geistigen Tempel.“ Mit diesen Worten ist alle Herrlichkeit verschwunden. So jäh ist der Wechsel zwischen hellstem Licht und Dunkelheit, daß Josef erschrocken darüber aufwacht. Der Traum hat nur wenige Minuten gedauert, denn gerade wird die Mitternachtsstunde ausgerufen.
Wie unter geheimem Zwang erhebt er sich, sattelt den Reitesel und trabt aus dem Ort hinaus. Als er auf die staubige Landstraße einbiegt, kommt er zur Besinnung. Wo will er denn hin? Zu Maria? Gewiß, die Worte des Engels sind ihm göttlicher Befehl. Es hieß, Maria sei bei der Muhme. Sie hat aber deren drei. Ist es Elisabeth, wie im Traume gesehen? Ist es eine andere —? Wie er umwenden will, um am andern Morgen sich weltliche Gewißheit zu verschaffen, greift eine Hand plötzlich ins Zaumzeug. Eine junge Stimme fragt: „Josef, wo willst du hin?“ Der Angeredete zuckt zusammen, denn in der Dunkelheit des Weges zwischen Zypressen hat er niemand kommen sehen. Nur undeutlich sieht er eine schlanke Gestalt, ein helles Gesicht. Verwirrt, vom Traume noch befangen, spricht er: „Zu Maria.“
Alsbald faßt der Junge die Zügel fester an, schreitet fürbaß immer höher ins jüdische Bergland hinauf, einem leuchtenden Morgen entgegen. Wie es graut, sieht Josef den Führer, einen kaum Sechzehnjährigen mit edlen Gesichtszügen. Auf einen halb langen, blütenweißen Mantel fällt leichtgelocktes braunes Haar, die Füße stecken in hellgegerbtem Schuhzeug. Harmonisch ist sein Gang. Nie sah er ein Kind leichter schreiten. Und erst der Esel! Gut sind die Tiere, an Lasten und Schläge gewöhnt, aber sie sind störrisch. Jetzt trabt er schon seit Stunden, als trüge er keinen schweren Mann, als ginge es nicht unentwegt bergan. Josef hört allmählich auf, sich zu wundern. Es hängt mit dem Traum zusammen, denkt er. So kommen sie an die letzte Anhöhe, auf der des Zacharias Haus einsam steht. Der Führer deutet hin: „Dort findest du Maria“, sagt er freundlich lächelnd. „Friede sei mit dir!“ Er streichelt des Tieres Nüstern und ist plötzlich am Waldsaum verschwunden. Ehe Josef sich besinnt, ist er schon droben; der Esel trabte ohne Zügelgebot.
Gerade tritt Elisabeth vor das Tor, sie wollte ihren Gevatter zurückrufen, falls sie ihn noch auf dem Bergpfad sah. Nun wird sie abgelenkt; denn Josef, inzwischen aus dem Sattel gesprungen, tritt höflich auf sie zu und spricht: „Gegrüßet seist du, der Herr sei mit dir!“ „Und mit dir, Fremdling“, erwidert Elisabeth, die Josef nicht wieder erkennt, da sie ihn viele Jahre nicht sah. „Wen suchst du in dieser Einsamkeit? Bedarfst du und dein Tier der Pflege, so tritt ein und sei willkommen!“
„Der Gott unserer Väter segne deine Gastfreundschaft; ich nehme sie dankend an. Seit Mitternacht bin ich auf ungesäumtem Wege. — Ich suche Maria, die reine Jungfrau, die Fürstentochter.“ Er gibt sich nicht zu erkennen. Elisabeth betrachtet den Mann eingehender. Kennt sie ihn nicht eigentlich? Vergeblich grübelt sie. Über die auserwählte Tochter des Volkes wird sie beide Hände halten, sie notfalls mit ihrem gesegneten Leibe schützen. Vorsichtig fragt sie: „Maria suchst du? Unser Volk hat viele Jungfrauen gleichen Namens“
„Du hast recht,“ Ehrerbietig, doch mit kleinem Lächeln neigt Josef sein Haupt; er bewundert die tapfere Frau. „Freundliche Hüterin dieses Hauses“, sagt er daher, „es gibt nur eine Maria, die in Gottes Schoß ruhte und Mutter des Heilandes und Erlösers werden wird. — Sieh, diese Maria suche ich und keine andere. Ich bin Josef, Ein Engel bat mir im Traum befohlen, Maria zu mir zu nehmen als mein Weib. Ich bin gekommen, dem Befehle Folge zu leisten“
„Oh Elisabeth stößt einen Freudenruf aus. Dem herbeieilenden Hauswalter befiehlt sie fleißig, Josefs müdes Grautier beste Sorge zu tragen. Selbst geleitet sie den willkommenen Gast segnend über die Schwelle ihres Hauses, richtet eigenhändig ein köstliches Mahl und nachdem sie alles beredet haben, berichtet sie Maria, was Gutes ihrer wartet. Ein Alp fällt von deren Brust, als sie, des trüben Vortages sich erinnernd, nun die frohe Botschaft vernimmt. Elisabeth erstaunt. Maria hat plötzlich etwas abgestreift, wohl das Irdisch-kindhafte, Weltlich-unreife; sie wandelt durch des Hauses Räume wie eine Fürstin, die sich demütig ihrer hohen Stellung bewußt ist. So tritt sie auch Josef gegenüber, dem gleichfalls die große Veränderung auffällt. Er beugt seine Knie und spricht inbrünstig:
„Vor Dir, heiliger Herr und König, Der Du mich berufen hast, Dein unwürdigster Diener zu sein, beuge ich mich und bete Dich an. Das mir anvertraute kostbare Kleinod will Ich nach bester Kraft hüten, soweit es in meiner Kraft steht.“ Sich erhebend, reicht er Maria beide Hände und sagt: „Ich eile, um in Jerusalem alles zu ordnen.“ Maria lächelt dankbar. Ihre Verehrung, ihr Vertrauen zu Josef ist groß. Elisabeth beeilt sich, ein Pergament mitzugeben, damit ihm durch Zacharias die Wege leichter werden. Sehr schriftgewandt ist sie, die kluge Frau, und Josef wundert sich. Sie sorgt in allem für den Ritt und gibt ihm Wegzehrung, auch für den Schwager, den er einholen wird, hat sie doch ihre eigene braune berggewohnte Maultierstute satteln lassen, die viel schneller läuft als die kleinen Esel. — — —
*
Langsam nur kommt der Mann mit dem sorgenden Gram vorwärts. Immer wieder zügelt er sein Tier und grübelt fruchtlos vor sch hin. Die Schande, daß in seinem Hause solches geschah, lastet zermürbend auf ihm. Nach und nach verschwinden alle bei Elisabeth erhaltenen Lichtblicke, je mehr er sich Jerusalem nähert das bereits von einer letzten Anhöhe aus im Sonnenglast eines heiteren Tages zu sehen ist. „Jerusalem“, spricht er leise, du Stadt der Vergangenheit und Gegenwart. Aber auch der Zukunft — Nein, kommt kein Weltmessias, uns vom verhaßten Römerjoch zu befreien, dann gibt es keine Zukunft.“
Seufzend setzt er sich auf einen gestürzten Baum; das Tier ist müde, er will es schonen. Viel müder ist seine Seele, die er nicht schont, sondern unentwegt mit Gedanken quält. Der Messias! Sollten das Tempelkind und die kluge Elisabeth doch recht haben — die Worte der großen Propheten anderen Inhaltes sein als auch er, der Oberen einer, lehrt? Was aber hätte die Welt davon? So tief ist er versunken, daß er den Hufschlag eines schnellen Trabers erst vernimmt, als die Tiere sich witternd begrüßen. Da schaut er auf. Er stutzt. Ist das nicht . . . Josef ist bereits vom hohen Sattel herunter und sitzt neben ihm, ehe er sich erheben kann. Und da sprudelt er los. Josef läßt alles über sich hinrollen, er spürt, daß sein Freund sich aussprechen muß, soll auch er die Wahrheit erkennen.
Endlich unterbricht er ihn und sagt in seiner gewinnenden Art: „Du hast Maria während meiner Abwesenheit betreut, ich kann sie nur wieder aus deiner Hand erhalten, so oder so. Nun frage ich dich, den Templer, zum zweiten Male: Gibst du mir Maria?“
„Ich dir geben? Willst du mich höhnen?“ „Lag in meiner Frage auch nur ein Buchstabe voll Hohn, so schlage mich!“ Josef spricht streng.
„Verzeih!“ Der Gescholtene legt seinen Arm um Josefs Schultern. „Ich wollte dich nicht kränken. Sieh, muß ich aber nicht froh sein, wenn jemand die Schande von meinem Hause nimmt?“
„Du bist in großem Irrtum“, erwidert Josef. „Dankbar muß der sein, der die königliche Tochter aus dem Tempel oder aus deiner Hand empfängt; noch dankbarer und demütiger, dem der Höchste sie anvertraut. Das geschah mit mir.“ Er berichtet dem aufhorchenden Freund alles, was sich indessen zugetragen hat.
„Das ist allerdings seltsam“, sagt dieser, „das kann ich freilich nicht mit belanglosen Worten abtun. Aber — soll unser Volk ewig unter den verhaßten Römern schmachten?
„Laß das Volk, laß die Römer; werde du und dein Haus selig durch Den, Den der Allerhöchste uns zu schenken die Gnade hat!“
„Das ist ein gutes Wort!“ Jemand sagt es. Beide Freunde fahren in die Höhe, sie haben weder Schritt noch Hufschlag vernommen. Josef eilt dem Ankömmling entgegen, streckt beide Hände aus und ruft: „Mein Führer, mein junger Führer in der Nacht!“ Freundlich grüßt der Jüngling die Männer und setzt sich zwischen sie auf den Baumstamm. Eine Weile schaut er zur hochgebauten Stadt hinüber, sucht forschend in den Augen der Irdischen und hebt an zu sprechen, indem er einmal kurz auf die alte Davidstadt hindeutet:
„Die Mauern sind morsch geworden; sie gleicht in nichts mehr dem Bilde, nach dem die Väter sie erbauten. Niemand ist, der sie vor dem Einsturz bewahrt. Wer an ihr hängt mit dem Verlangen, sie vor der Welt groß zu wissen, wird — geistig wie irdisch — unter ihren Trümmern sein Ende finden. — Aus der Stadt des Babeldienstes kommt kein Messias! Und zieht Er einmal in sie ein, so nur, um Sein heiliges, persönliches Opfer zu vollbringen. Die Prophezeiung erfüllt sich: Der Messias wird dem Volke geboren! Nicht aber mehr ihm ausschließlich, sondern Er wird ‚aller Welt Heiland‘, der Menschensohn, der Erlöser des ganzen Erdreichs sein! Seine Macht ist nicht von dieser Welt und Er schenkt sie ihr nicht! Mit Seiner Kraft richtet Er das Friedensreich auf, keinesfalls jedoch eine schon versunkene Dynastie dieser Erde. Und ist Ihm alle Gewalt gegeben, so wird Er durch sie die Menschen erlösen, weniger vom irdischen Leid als mehr vom Tod der Sünde. Darin ist Er urewiglich ein König aller Könige; und als aller eurer alten Väter Vater führt Er in Seiner Stärke den Heilsplan aus, wie Er Sich ihn ewiglich vorgenommen hat!
Arm, bitterarm wird Er in diese Welt eingeboren und nichts nennt Er Sein Eigen. Das muß also geschehen, denn in heiliger Hand liegt die Bedingung. Die Menschen werden Gottes ‚Lebenswerk‘ verachten und ihrem eigenen Gericht überantworten. Doch — wehe dir dann, stolze Stadt habgieriger Priester, dreister Kaufleute, vom Irrwahn befangener Menschen! Wie du zerschlägst, wirst du auch zerschlagen werden, wirst untergehen mit all deiner armseligen Macht und Herrlichkeit! Das, ihr Männer, ist euch vom Höchsten gesagt. Bewahret das in euren Herzen, denn weder Zeit noch Menschen sind reif, es gleich zu verstehen.
Was dünkt euch“, fragt der Jüngling, indem er die Männer ernst und prüfend anblickt, „müßte der Allerhöchste tun, um die Sünde von der Erde zu nehmen?“ Lange muß er auf Antwort warten.
Endlich sagt der Oberste: Gott müßte alles Menschengeschlecht ausrotten, alle Kreatur und die Erde vernichten, bis nichts mehr übrig bleibt.“
„Du hast nach deiner Erkenntnis nicht unrecht. Meinst du aber, daß Gott damit gedient wäre?“ Zögernd kommt die Antwort: „Das kann ich nicht wissen, Gott ist unbegreiflich.“
„Für den bestimmt, der sagt, ein Mensch dürfe nicht in Sein Werk eindringen. Das klingt sehr fromm, sehr demütig. Und was ist solche Ansicht? Zu allermeist ein grauer häßlicher Mantel, womit die Seele ihre Trägheit zudeckt. Denn wer einmal in Gottes Tiefe schaute, muß sich der Erkenntnis beugen; ein Zurück gibt es nicht! Das fühlt jede Seele, bewußt oder unbewußt; daher steht sie in Front gegen dieses ‚Unbedingt um jeden Preis‘! Ich sage euch: Wer wahrhaft demütig sich mit dem Geiste vermählt, wird jene heilige Tiefe begreifen lernen, die UR Seiner Schöpfung schenkte. Es liegt am Menschen, den Geist in sich zur Vorherrschaft zu bringen, und Ihn — den Heiland — so zu erkennen, wie Er Sich der Welt zur Voll-Erlösung gibt.“
„Wer ist das Volk? Ist es das unsere, seit Abraham erwählt, die Herrschaft über das Erdreich anzutreten?“ „Ist das dein Wunsch?“
Wie sonderbar der Jüngling fragt. Welche Antwort mag er heischen? Wieder muß er warten, bis der Gefragte zögernd erwidert: „Es war mein Wunsch.“
„Ich will dir dein Herz enthüllen“, spricht der Bote des Reichs, „und zwar besser, als du selbst über dich im klaren bist. Sieh, dein Volk irdisch groß zu wissen, deswegen harrtest du voll Sehnsucht der Stunde, da der von euch verkündete Weltmessias käme. Auch für dich, wenngleich in zweiter Linie, erstrebtest du den Vorteil. Nun, das Wunschgebäude ist recht wankend geworden, du hast es bereits verlassen, aus Furcht, es könne über dir zusammenstürzen. Allein, aufgegeben hast du es noch immer nicht, sondern gehst eben um die geborstenen Mauern her trägst manches Material herbei, um es — so stützend — vor völligem Einsturz zu bewahren. Das heißt: Alle Prophezeiungen, die sich auf den Heiland beziehen, schneidest du zurecht, um deine Ansicht zu gewinnen, daß ein Messias geboren werde, der auch irdisch König sei. Aber höre: Schwerlich mehr liegt die Erfüllung der Verheißung auf diesem Volke, das als Abrahams Same am Sinai die heiligen Gebote empfing. Bis auf den heutigen Tag hat es fortgesetzt die Gottesgebote übertreten. Darum sehet: Das ist das Volk, die große Schar, die aus dem Himmel nieder steigt, Bauleute zu sein dem ewigen Bauherrn und Seinem Schöpfungswerk! — Dazu gehören Alle, die an den HEILAND glauben und nicht an den erträumten Messias eines Gott vergessenden Volkes. Denn die da anbeten zu Jerusalem“, der Jüngling deutet mit der Rechten zur schönen Stadt hinüber, „beten das eigene Ich durch ihr Schaugepränge an. Wenige unter ihnen sind, die des Äußeren nicht achten, die ihr Herz einzig der lebendigen Erkenntnis zuwenden. Zu diesen sollt ihr gehören, zu diesen gehört Zacharias. — Die auf solche Weise als Abrahams Same dem ‚heiligen Volk entsprossen‘, werden den ‚Heiland‘ sehen und Ihm dienen. —
Du hast ein gutes Herz“, spricht er tröstend weiter, „sorgst für Arme, Kranke und Gefangene. Deshalb wurde auch Maria in dein Haus gebracht, auf daß dein Messiasglaube, der nicht einmal dein ureigener ist, untergehen und dafür der wahre Glaube des Lichts in dir eine herrliche Auferstehung erfahren sollte. — Einst erwartete das Volk den Heiland, wie die Propheten Sein Kommen kündeten. Der vom Tempel angepriesene Wunschglaube hat seinen Ursprung in der zweiten Hälfte der großen babylonischen Gefangenschaft. Das Volk war heidnisch geworden, es dachte, handelte und vermischte sich mit den Babyloniern.
Da stand ein Mann auf; er hatte ein gutes Ziel, wenngleich er nicht übersah, was sein Tun und Handeln einst brächte. Sein Name war Judamäa. Er wollte das Volk sowohl vom äußeren, weit mehr vom inneren Untergang retten. Er sammelte Anhänger, merkte aber bald, daß er nur wegbahnend sein konnte, wenn er Irdisches bot. Nun — so bot er einen irdischen Heiland, einen Weltmessias, sich stützend auf alle Prophezeiungen, die er entsprechend seinem angestrebten Ziele auslegte. Er bewahrte so das Volk vor dem irdischen Untergang, denn mit der dritten in der Gefangenschaft schmachtenden Generation gelang ihm die allmähliche Loslösung von Babel. Er und seine Anhänger gründeten Tempelschulen, Verwaltung und sogar Gerichtsbarkeit. Alles aber war untermauert von der falschen Auslegung der Messiasverheißung, und das um so mehr, da dieser Judamäa selbst nur kurze Zeit sein Werk in Händen halten konnte. Er starb bald.
Damals bildete sich die eigentliche Priesterkaste im Sinne, wie sie heute am Ruder ist; schlau, machtgierig und auf Äußeres bedacht. Das Priestertum, einst von Gott eingesetzt, ist in Babylon untergegangen. Die guten und wahren Priester blieben bis auf den heutigen Tag Einzelerscheinungen, desgleichen die wenigen frommen Könige. — Auch ihr seid in diesem Glauben groß geworden; es wird euch eure bisherige Ansicht nicht zur Last gelegt.
Nun aber ist die Zeit da, wo ihr das weltlich anerzogene Glaubenstum abwerfen und die Prophezeiungen erkennen sollt. Seid jenes Heilandes gewärtig, der kraft Seines Friedens zur Erde kommt, sie zu erlösen und frei zu machen von aller Sünde, von der Knechtschaft der Finsternis! Maria, die reine Magd des Herrn, wird dort Heiland gebären, der ‚JESUS‘ heißt! Habt Freude, denn das Licht des Himmels steigt hernieder! Laßt die Erde, die Völker, Großen und Mächtigen ihre Bahnen ziehen, — seht, ihrer aller Stunden sind gezählt. Wenn das Kindlein Seinen ersten Atemzug tut, wird die Sanduhr dieser Welt zum letzten Male umgedreht. Ist aller Sand nach unten verronnen, hört die Welt als solche auf zu existieren. Dann hilft keine äußere Macht mehr! Wer sich an den Sand irdischer Vergänglichkeit klammert, fällt mit ihm in die Tiefe!“ Der Jüngling wendet sich Josef zu:
„Josef, eile nach Jerusalem, es ist alles bereit. Zacharias wartet auf dich. Ich bin bei ihm gewesen.“ „Bei ihm gewesen?“ Wie aus einem Munde fragen es beide Männer. Mariens Beschützer fügt hinzu: „Wie ist solches möglich? Mit dem schnellsten Dromedar hättest du in der kurzen Zeit vom Morgen bis jetzt nicht eine Strecke bewältigen können!“
„Da hast du wieder recht; kein Dromedar hätte mich zu Zacharias, geschweige denn wieder zurückgebracht. Weißt du noch immer nicht, daß ich aus dem Reiche bin? Nun, du sollst es erleben!
Wende dann deine Schritte von Jerusalem aus nach Nazareth, dort wirst du alles in Kürze ordnen können, um Maria alsbald zu dir zu nehmen. — Und was willst du tun“, fragt er den Obersten.
„Ich? Ja, ich wollte auch nach Jerusalem. Nun aber zieht mich mein Herz zur auserwählten Tochter unseres Volkes und — zu dem Knäblein, das da kommt, welches sie aus Gottes Geist unter Ihrem Herzen trägt. Der Priester zu Jerusalem kann ich leicht entraten.“ „Recht gesprochen. So zieht beide eure Straße, der Herr ist mit Seinem Lichte bei euch. Friede sei mit euch.“
„Friede sei mit dir“, grüßen die Männer ernst zurück und neigen ihre grauen Häupter. Erstaunt sehen sie, wie auf einmal ein weißes Pferd vor dem Jüngling steht, auf das sich dieser leicht schwingt, eine Weile auf dem Felspfad in irdischer Geschwindigkeit dahineilt, als breite sich unter den Hufen weiche Steppe aus; dann aber — wie ein Blitz — fliegt das Licht zum Himmel empor. — In wenigen Sekunden sehen die Männer es nicht mehr.
Schweigend reichen sie sich die Hände; sie verstehen sich. Josef reitet so schnell als das Maultier willig vorwärts trabt. Überall wird ihm von unsichtbaren Begleitern der Weg geebnet. Keine Söldnerstreife hält Ihn auf, kein Torwächter sperrt den Weg, noch ein Herbergswirt die Pforte. Im Tempel ist er hoch geachtet und hat schnellen Zutritt zu Zacharias. Schon am andern Mittag hält dieser die wertvolle Schriftrolle in Händen, derzufolge Maria dem Josef zugehört als Weib, nicht mehr nur als Tempelschützling wie vordem. Zacharias hat keine Sorge, sollten beide bei Ruchbarwerdung von Mariens Schwangerschaft vor das Tempelgericht geladen werden, was später geschieht und wo dann auch erst die Schriftrolle Rechtsgültigkeit erhält, eigentlich die zweite durch den Hohenpriester. Josef reitet nach Nazareth, findet alles, wie der Jüngling sprach und kehrt wieder zurück zum Haus auf der Höhe, wo das Himmelslicht Einzug hielt.
—
Dort angekommen, findet er seinen Freund noch vor, desgleichen Zacharias, der wegen seiner Stummheit für einige Zeit des Amtes nicht walten braucht. Wie erstaunt Josef über die ehrwürdigen Männer. Der Tochter Israels, der Gottestochter, erweisen sie Ehre und Achtung. Sie tun es allein um des Kindes willen. Und Maria? O, nicht nur innerlich hat sie sich entfaltet, auch äußerlich ist sie wie eine Rose aufgeblüht, so zart und rein — und unsagbar reif. Trotzdem schreitet sie still und demütig, kindlich wie bisher durch das Haus und ist allen ein wundersamer Trost geworden. — — —
—
Der letzte Abend bricht herein, bevor Josef mit Maria die Reise nach Nazaret antritt. Er hat zugesagt, sie zu Elisabeth zu bringen, sobald dies nötig sei. Er weiß ja nicht, daß Bethlehem Gottes Ephrata sein wird. Vereint sitzen sie auf dem Söller. Wunderbarste Ruhe herrscht auf der Berghöhe. Kein Laut ist zu hören, die Welt schläft. Der Himmel aber ist wach. Myriaden funkelnder Sterne haben die sammetdunkle Decke geschmückt. Wann jemals hat ein solches Lichterheer seine Strahlen auf die Erde gesandt? — Niemand von den fünf Menschen bricht den feierlichen Frieden mit einem Wort.
Da — so sehen sie alle öffnet sich das dunkle Tor des Firmaments. Ein klares Licht erscheint und senkt sich allmählich herab, immer größer, immer strahlender werdend, daß keiner der Schauenden es ungehemmt erträgt. Sie schließen ihre Augen, die sie erst wieder öffnen, als sie ein sanftes Wehen um sich spüren. Unendlich mildes Licht hüllt sie ein. Zwei Fürsten stehen mitten unter ihnen, Gabriel und Zuriel. Und es spricht der Träger der Weisheit:
„Ihr Menschenkinder, höret die Stimme des Himmels, die euch Heil und Kraft verkündet. Was euch widerfährt, kann die Erde nicht verstehen, denn ihre Kinder kennen nicht das heilige Werk. Ihr aber, die ihr aus Güte, Gnade, Langmut und Sanftmut zur einzig-wahren Erkenntnis über das Kommen des Heilandes hingeleitet worden seid, könnt um ein Kleines in die Schöpfungsheiligkeit hineinschauen, die in dem Wort ‚Der Heiland wird geboren‘ verborgen ruht.
Warum muß überhaupt ein Heiland werden? Juda, das auf seinen Messias wartet, wird schwerlich einen ‚Aller-Welt-Heiland‘ anerkennen. Ja, das Ende aller Tage bricht herein und wenige des Volkes werden gleich euch zu einer guten Erkenntnis über die Geburt gelangen, wenige auch von denen, die jetzt noch Heiden, später zum großen Teile Christen genannt werden. Sie alle — wenn überhaupt — sehen nur den Bringer einer neuen Religion im Heiland; vielleicht begreifen sie noch das Wort ‚ERLÖSER‘, sofern sie im irdisch bedingten Glauben wissen, daß Er um ihrer Sünden willen kam. Über diese allgemeine nur allzu begrenzte Erkenntnis greifen nicht viele hinaus.
HEILAND ! — O, welch unendliche Tiefe birgt das Wort! — Die Wunde, die das erste Lichtkind der Schöpfung schlug, liegt noch immer offen im All; und der Schöpfungstag kommt nicht zur Ruhe, zum Frieden. — Und doch kann der sich selbst aus dem Reich ausgestoßene Teil nicht für immer vom UR-Sein getrennt existieren, einmal muß eine Einigung herbeigeführt werden, gleichgültig, ob dann auf der Basis des freien Willensgesetzes oder auf jener einer allheiligen Bedingung.
Ehe jedoch das Letztere eintreten konnte, begab UR Sich eines Teiles Seiner Allmächtigkeit, vornehmlich in den vier bestimmenden Eigenschaften und wählte aus einem ewig unbegreiflich bleibenden Gesetz der tragenden Geduld, Liebe und Barmherzigkeit den Heiland-Weg, um durch eine persönliche Wunde jene des Liebe-Schöpfungstages zu heilen! Er wollte Sein eigenes, hochteures Blut dem inzwischen fast blutleeren vom Reich abgetrennten Körper hingeben, damit derselbe wieder genügend Lebensstoff in sich trüge und also für ewig reichsfähig bliebe. Das war hehrstes Hochziel! Wer mag das in der schöpfungsweiten Allgewalt begreifen? —
UR übernimmt keine andere Garantie der Heilung als jene Seines persönlich zu bringenden Opfers! Sie, die Garantie, ist weder aus einem Soll, noch weniger aus einem Muß hergeleitet; und auch nach vollbrachtem Opfer wird das Kann und Darf an erster Stelle stehen! Das verlorene Kind kann erkennen, darf zurückkehren! Das ist der Preis des Hochzieles! Anders wäre es nur ein aus Macht und Kraft hergeleiteter Reinigungsakt, zu dessen Erreichung der Allheilige keines persönlichen Opfers, noch eines Mitopfers Seiner getreuen Kinder bedürfte. Die Liebe jedoch, an diesem sechsten Schaffenstag im Vorrang, will die gegenseitige freie Verbindung zwischen Vater und Kind nicht anders wie zwischen Geschöpf und Schöpfer haben!
Nun aber die des Höchsten Werk entstellende Wunde so groß wurde, daß sie das ihr überlassene Bereich einem fast nicht wieder aufhebbarem Tode in die Arme trieb, hat UR — gestützt auf Seine Vierwesenheit und sieben Eigenschaften — Sich Selbst zum Heiland bestimmt, dadurch einen heilenden Eingriff gerechtfertigt, der das freie Willensgesetz in nichts antastete! – Was wißt ihr Menschen von dieser Entscheidung, von all den vorausgegangenen heiligen Werken, wieviel zahllose Sonnenbahnen in Bewegung gesetzt wurden, von einer ganz unglaublichen Arbeit aller Lichtkinder, bis jenes Erdgeschehen herbeizuführen war, aus dem der Heiland geboren werden kann — — ?
Meint ihr, es genüge, wenn Gott spräche: ‚Ich will Meine Liebe als Sohn zur Erde senden, daß ein Erlöser werde‘, und es geschähe im Augenblick, da Er es sagt? Zur bevorstehenden Zeit, wenn das UR-Licht die Erde trifft, sind alle Sonnenbahnen des Reichs und jene der materiellen Schöpfungszelle an ihrer äußersten Grenze angelangt, zeit- wie raummäßig; es gilt, daß auch sie dann ihre Umkehr haben, durch welche ihr Werk-Soll in entsprechender Schöpfungs-heimkehr gegeben sein wird. Das kann ordnungsmäßig nicht plötzlich geschehen. — Die Lichterheere des Reichs mußten daher aus einer für euch äonenfachen Zeit dem Erlösungswerk eingereiht, jene Weltenheere der Materie aber darin eingeschlossen werden, die ersteren, um mitzudienen, die anderen, um ihre Heilung zu empfangen. Als das alles geordnet war, dann erst bedachte UR Sein persönliches Opfer, das in nichts herrschend, sondern nur führend und rufend, heilend und erlösend sein durfte. Und das war auch für UR unsagbar schwer! Wie sollte Er eine vollständige Unterordnung unter das Werk, noch dazu um eines einzigen Kindes willen, mit Seiner heiligen Allmächtigkeit verbinden? Darüber wird nun Gabriel zu euch sprechen.“
Nicht alles können die fünf Menschen verstehen, es ist ihnen zu neu. Aber sonderbar: das Wort HEILAND legt sich tröstend auf die aufgerissenen Herzen, durch die der Lichtfürst seinen Pflug gleiten ließ. Nun ist ihnen, wenngleich sie es nicht wort- noch sinngemäß erkennen, als ob der Samen ausgestreut würde. Sie schauen auf Gabriel, der an Mariens Seite sitzt. Maria selbst hat sich der Offenbarung ganz hingegeben. Nicht, daß sie es tiefer verstünde, nein, aber sie hat alles aufgenommen wie durstige Blumen den Regen, die einfach trinken und dadurch wachsen, ohne dessen bewußt zu sein. Nur schenken möchte sie, viel schenken von dem, was ihr Herz randvoll füllt. Selig — selig ist sie, die Auserkorene; und ihre Demut ist ein Lichtschein über ihrem Haupte, den auch die Irdischen sehen. Die Welt dünkt sie zu klein, ihr Glück zu fassen; sie möchte Sonnen und Sterne herbeirufen, daß sie tragen hüllen. — —
„Höret, lauschet und staunt“, beginnt Gabriel mit freundlicher Stimme. „Alles, was ihr vernommen habt, was ich noch verkünde, ist zuerst nur für Wenige bestimmt; denn noch ist die große Zeit nicht da, die Vollendung offenbart. Einst, wenn sie sich erfüllen wird, lauschen wieder einmal Menschen, die sich gleich euch vorbereiten. Ihr harret der Geburt des Heilandes, sie harren Seiner Wiederkunft! Sie wie ihr erwarten ihn mit Sehnsucht; und sofern sie bedingungslos glauben, werden ihnen alle und noch mehr Geheimnisse enthüllt als es jetzt geschieht. Ja, heilige Erkenntnisse werden es dann sein. — Jetzt kann nur das Nötigste offenbart werden; es genügt aber vollauf, euch einen Himmel voll Seligkeit zu bescheren. — Nun höret einiges aus der Vorbereitung, auf welche Weise UR ein Heiland werden wollte — Daß Er dem Fallkind einen Schöpfungsteil überließ, von dem Luzifer vollständigen Besitz ergriff, daß diese Erde wurde, geschah aus Barmherzigkeit. Nicht aber, weil sie die mächtigere der Eigenschaften ist, sondern weil jedes Höchstvollkommene, — aus dem heiligen Ordnungsgrund und über die Stufen der Grundlebensstrahlen bis zur letzten herauf aufsteigend — in der Barmherzigkeit seine Vollendung erfährt.
Damals kämpften die Eigenschaften um den Ausgleich, der nur um der Erlösung willen geschah. Ihr ahnt nicht, was es für UR bedeutete, aus Seiner herrlichen Machtgröße solch armseligen Weltkörper, so ein erbärmliches Zwerglein zu gestalten und — obendrein Seinen Fuß Höchstselbst auf dieses kümmerliche Etwas zu setzen. Welch ein Maß an Barmherzigkeit gehörte dazu!? Könnt ihr spüren, was es heißt, daß der erhabene Werkmeister Sich zu solcher Nichtigkeit herabläßt, um Einbringer dieser Seiner Erlöserbedingung zu werden?
Sehet, ich habe hier eine handvoll Sand. Zählt die Körnlein und errechnet daraus die Menge, die unterhalb dieses Hauses den großen Hügel ausmacht; und dann werdet ihr wissen, wie viel es materielle Weltkörper gibt, die ihre euch noch vollstens unbekannten Bahnen ziehen. Nun aber erst die Sonnen des Lichtes! Daran sei die Frage geknüpft: Könnte der Baumeister derart unfaßbarer Himmelswerke nicht mit einen Gedanken-Bruchteil Luzifers Bannkreis behauchen, ohne daß es dieser verspürte und er samt seinem Fall heimgebracht würde ins Reich? Wer möchte mit UR rechten, wollte Er Seine Hand ausstrecken und sagen: ‚Komm zurück‘! —? Niemand, nicht einmal wir Eigenschaftsträger könnten UR in Seine machtvollen Werkhände fallen und sprechen: ‚So kann es nicht geschehen!‘ — Aber Seine heilige Schöpfermacht, die große priesterliche Kraft traten um eines kleinen Gebotes, einer noch unendlich kleineren Erde willen zurück.
Er hatte Seine ersten Tage auf die bestimmenden Eigenschaften Ordnung, Wille, Weisheit und Ernst gegründet und die Geduld hinzugefügt, auf daß alles herrlichst vollendet würde, was am sechsten Schaffenstag kraft der Liebe den Kindern erkenntlich werden sollte. Auch gedachte Er auf diese Weise das Werk durch Barmherzigkeit zu krönen. Da kam Sadhanas Fall! Mit der dem Kinde gegebenen Kraft, die ihm auch als Luzifer nicht zwangsläufig entrissen werden durfte, nahm der Gefallene den ihm belassenen Werkteil in Besitz und entblößte ihn aller Heiligkeit und Erhabenheit. UR sah das Schandmal, Er ließ es geschehen, gewiß, — allein, Er sah dem Treiben keineswegs tatenlos zu.! Und wenn ihr meint, daß jetzt erst mit dem Kommen des Heilandes das Erlösungswerk beginnt, so täuscht ihr euch gewaltig!
Mit dem Augenblick, da Luzifer den ihm überlassenen Schöpfungsteil dämonisierte, setzte schon der Akt der Erlösung ein. Die Zeit in Erdenjahren euch zu nennen, ist unmöglich, und die Lichtzeit ist eine vollständig andere. Ihr könnt daher den Grund nicht ermessen, seit wann UR Sein Rückführwerk begann.
Die aus dem Rückführwerk gehobene Erlösung bedingte in der Ordnungsfolge, die dadurch keineswegs aufgehoben wird, eine große Ausnahme. Die Werk-Tage bleiben ewiglich in ihrem Grundaufbau stets wie vorerwähnt, daß immer die vier bestimmenden Eigenschaften den drei tragenden vorausgehen. Die Erlösung aber, sollte sie eine dem Heiland-Plan entsprechend vollständige werden, bedurfte der Veränderung jeweiliger Einzelheiten eines in sich festgeschlossenen Ganzen. Diese Veränderung ist jedoch ebenso einmalig, wie einmalig überhaupt die Erlösungstat sein kann zufolge eines Falles! Und sie zeigt sich gemäß der heiligen Vierwesenheit in vier großen Abschnitten des Heiland-Weges.
Das ist die Geburt, aus Barmherzigkeit und Weisheit bedacht; die vollständige Opferhingabe aus Geduld; die Vollendung des Heilswerkes innerhalb des Materie-Zentrums, vollbracht durch Liebe und Wille; und endlich der Abschluß der Vollerlösung, die Wiederkunft des Heilandes, auf Ernst und Ordnung gestellt. — Nicht für umsonst wird die Barmherzigkeit im irdischen Ablauf des Erlösungswerkes zuerst, die Ordnung zuletzt gesetzt, denn die Barmherzigkeit hatte als siebente Eigenschaft ihr letztes Wort zur vorgesehenen UR-Opfertat gegeben. Sie mußte somit zuerst zum Einsatz gelangen, während die Ordnung den Schluß bildete kraft ihrer Heilsstrahlung, den gereinigten, erlösten Fall für die UR-Ewigkeit in Raum und Zeit wieder einzuschließen.
Auf welche Weise ist nun die Barmherzigkeit zuerst zum Heilsdienst berufen worden? Hat UR einfach gesagt: „Ich will?! Hätte damit nicht eine zwangsläufige Erscheinlichkeit eintreten müssen, die dann allerdings das Gegenteil freien Kindtums geworden wäre? O seht, mit einem ‘Ich Will‘ wären — selbst bei Volleinsatz der Barmherzigkeit — sowohl das freie Willeasgesetz als auch die der Gottheit vorbehaltenen gerecht gestellten Bedingungen einem Mußgesetz unterworfen gewesen. Also galt es im Lichtstrahl der Weisheit die von der Barmherzigkeit als Hochziel bestimmte Erlösung anzubahnen. In diesen beiden Eigenschaften ruhte schon die Antwort der Frage: Wer wird Erfüller der Erlösung: UR als VATER in Barmherzigkeit, der die Gabe opfern will, oder als PRIESTER in Weisheit, der das Opfer durchführt? Als SCHÖPFER konnte Er keinen Opferanteil beibringen. So blieb nur Seine dritte Wesenheit ‚GOTT‘, aus der das Opferlamm zu erküren war. Aber der Priester konnte nicht opfern, wenn nicht der Vater das Opfer hergab. Daraus erkennt ihr, daß im Erlösungswerk nur die Barmherzigkeit als erste auf den Plan treten konnte und die Weisheit mit ihrem Licht alles heilige Tun überstrahlte.
(Gabriel-Barmherzigkeit verkündet den Spruch: Ehre für Gott, Friede für die Menschen; und der Stern Weisheit erleuchtete den Pfad in dunkler Nacht. — Auch Abraham als Vater mußte gewillt sein, das Opfer, den Sohn Isaak, zum Opfern herzugeben.)
Die Weisheit führte es durch, daß die Kinder den Weg zur Vollerlösung anbahnten, doch nicht deswegen, weil UR es nicht hätte tun können oder die Kinder dies aus sich vermochten, sondern weil Sein persönlicher Opferstrahl das Fallwerk nicht zuerst treffen durfte, es wäre sonst von diesem Opferfeuer verzehrt worden, eher, als vom Feuer der Heiligkeit! War ja der Fall ins Riesenhafte gewachsen, und UR mußte Sein Opfer im gleichen Maßstab anpassen.
Ihr glaubt, daß durch die Paradieses-Schuld die Sünde entstand. Nur bedingt habt ihr recht. Die Sünde, d.h. ‚Lossagung‘, geschah ursächlich durch Sadhana. Sie kam im Augenblick auf diese Erde, als Luzifer die Welt in Besitz nahm, lange bevor es Menschen gab. Die Sündenerlösung erfolgt also auch ursächlich wegen Luzifer, in die allerdings alle ihm unterworfenen Seelen einzuschließen sind. Die Sünde lag in der Welt, als Adam und Eva sie betraten. Sie war nur noch nicht durch Menschen zur Erbsünde geworden. Es gab vor Adam Menschengeschlechter, für die die Hölle ihr Krafttor sehr weit aufgerissen hatte, nicht aber das Wesenstor. Das ergab, daß bis zu Adam die Sünde in gewisser Hinsicht eine bedingte war und nicht jene Folgen hervorrief, wie die adamitische mit sich brachte.
Letztere rief aus Ordnung das Chaos, aus dem Willen Willkür hervor; Weisheit wurde zur Bosheit und Ernst zur taumelnden Lust; die Geduld zerfiel in Jähzorn, während sinnlose Leidenschaften die Liebe entstellten. Barmherzigkeit wurde zur Blindheit gegenüber den durch Sünden hervorgerufenen Leiden und Qualen aller Art. Es kämpfte die Finsternis wider das Licht — Sollte UR nicht aufs tiefste erzürnt und beleidigt sein, weil Sein herrliches Werk zuschanden getreten wurde? Mußte sich nicht jeder Grundlebensstrahl erheben, um nicht nur den Widersacher zu strafen, ihn in seine Schranken zurückweisen, sondern auch die Menschen? O ja, Er wog das Bestimmende und das Tragende Seiner hochheiligen Vierwesenheit und es war nicht gleich abzusehen, ob eines von beiden größere Gewalt besaß oder ob sie — wie bisher stets — aufs Vollkommenste ausgeglichen wurden.
Wir sieben Fürsten standen vor dem Heiligen Herd. Es wurden die Sprüche der Eigenschaften aus ihren Trägern gesammelt und gewogen; in der rechten Waagschale lagen jene bestimmenden der Schöpfer- und Priesterwesenheit, links die tragenden aus dem Gottes- und Vatertum. Die vier Grundlebensstrahlen wogen über, weil der Geduld, Liebe und Barmherzigkeit auch ein Viertes fehlte, was einst durch Sadhana ausgeglichen wurde. Wie war es möglich, ihren einstigen gerechten Lichtanteil zu bewahren und obendrein ihren Fall aufzuwiegen?
Da nahm ich — erstmals geschah das durch ein Kind — das Buch der Schöpfung vom Heiligen Herd, schlug den noch unbeschriebenen kommenden Feiertag auf und legte die Sprüche der Geduld, der Liebe und Barmherzigkeit auf das reinweiße Blatt. Da kam die Entscheidung zustande. Und es wurde die Barmherzigkeit für die Zeit des Erlösungswerkes gerechtfertigt die erste, wodurch — wie schon erwähnt — die UR-Folge nicht aufgehoben, noch weniger der Liebe als Dominant des heiligen Erlösungstages ihr Vorrecht geschmälert ward. UR segnete unsere Tat, hatten wir doch Seinen geheimen Ratschluß erkannt. Es war jetzt schon vorauszusehen, daß der Garant und Erfüllungsträger des Liebe-Schöpfungstages seine Krönung erhielt!
Wir hatten auch einst zu entscheiden, wer der Opferträger werden mußte, falls ein Opfer im Sinne, wie es geschah und geschieht, zu verlangen war. Was war aber vermessener, UR Selbst den Opferweg anzutragen oder zu glauben, ein Kind sei fähig dazu?! Oh, ihr Menschen ahnt nicht, was im heiligen Reich seit Äonzeit geschah! Und doch mußte erkannt werden, daß es nur einen einzigen Weg, wie auch nur einen einzigen Opferträger geben konnte, ja — geben durfte: UR Selbst! Noch hielt die Heiligkeit, vertreten durch den Ernst, die Entgegnung vor: ‚Soll der All-Heilige um eines Kindes willen eine solche Erniedrigung auf Sich nehmen, dem Gesetz der Finsternis unterworfen zu sein, sei es gleich nur für eine Erdenlebenszeit, auch nur in der Grundpersonifizierung einer Eigenschaft? Wer wollte das von UR fordern?! Allein — im Werk, von UR als Schöpfer hochwunderbar gestaltet, lag der Spruch:
Nur auf diesem Wege war es möglich, die Heiligkeit URs zu schützen, Sein Werk zu vollenden!
Aber auch als Kinder, nicht nur als Eigenschaftsträger, rangen wir um die Heilsentscheidung. Denn was Sadhana der Gottheit angetan hatte, schwer war es, das wieder gutzumachen. Ein Kind konnte es nicht. Ja, wir sprachen: ‚Nur alle Äonen’ Scharen können unser Lichtleben aufgehen in die Finsternis gehen und auf diese Weise einen um den anderen kleinen Luziferteil zurückbringen, sofern dabei die Finsternis die Kinder nicht verschlingt! Welche Zeit jedoch der All-Heilige bedurfte, um hiernach zum Ziele zu gelangen, das wußte Er besser als wir Fürsten. Kostbares wäre Ihm verlorengegangen, wenn die Seligkeit der Lichtkinder dadurch ernsthafte Einbuße erlitt.
Hatte das Werk, vertreten durch uns Fürsten und alle Engelskinder als auch durch die Herrlichkeit seiner Schaffung, von UR verlangt: ‚Du Selbst mußt Dich Deinem Werke opfern, soll es durch Deine Barmherzigkeit gekrönt werden’, so stand hingegen von uns der freie Wille fest, Mitopferträger zu werden. Und wir Fürsten wollten zuerst die Lichtbahn herstellen, die die Finsternis aufriß, daß sie einmal ihres Trostes vergessen mußte. Allerdings, — ein Kind vermochte nur Einzelsubstanzen aus der Kraft Luzifers zu befreien; UR Selbst mußte Sieh im persönlichen Opferkampf das Herz erwählen, es zu besiegen! Und es war gewiß:
‚Mit Seiner Allmächtigkeit kann Er den Gefallenen bezwingen,
mit Seinem Opfer aber zur freien Umkehr bewegen!
Kommt Er als Herr der Heerscharen ins Bannreich, wird auch die hartnäckigste Ablehnung Luzifer nichts nützen; es würde alles Gefallene die Auflösung erfahren.
Übernimmt Er den Sühne-Opferweg, wird zwar die Herrlichkeit Seiner Macht verdeckt, allein — juwelenreich wird sie sich offenbaren! Und die kleine Welt, in der des Gefallenen Herz gefangen ist, ist der Erlöserort; UR machte sie zu Seinem Ephrata! Und wir sprechen ferner: ‚Laß Deine Fürsten den Weg bereiten, laß uns Dir dienen im Mitopfertum. Doch Du, o UR, sei Selbst der Opferträger! Wir Fürsten breiten die erhaltenen Gaben aus, über die Dein heilig-unbegreiflicher Demutsweg führt. So wird Deine Größe, die Herrlichkeit, Heiligkeit und Allmacht glorreich offenbar werden, wie noch keines Deiner Werke sie jemals sah! Diesem Demutsopfer wird das Kind der Finsternis nicht widerstehen können, daran zerbricht sein Trotz und seine Macht zerschellt, sein Hochmut wird versinken. Luzifer wird zum zweiten Male fallen — — hier aber zurück in Deine Heilandsarme, darin er seine Kleinheit ganz vergeblich mißt!!‘ — —
Konnte die Barmherzigkeit anderes fordern, da sie des armen, verirrten Kindes gedachte, daß ihm geholfen und einem überguten Vater das Verlorene zurückgebracht werde? Gottes heilige Geduld trat vor, und der Fürst verlangte nichts als eine Zeit, die UR bewilligte. — Längst trug Er das Ziel der Barmherzigkeit in Sich, bevor es von einem Kinde auszusprechen war. Da aber Kinder die Forderung stellten, die URs heiligem Erlöserplan entsprach, konnte sie — unbeschadet des Freiheitsgesetzes — auch der Schöpfung zur alsbaldigen Ausführung überstellt werden. Als die Geduld die Zeit in ihren Händen hielt, gab sie dieselbe der Liebe und nannte sie den ‚Sohn‘. Die Liebe gebar ihn und inkarnierte Sich Selbst in IHM !
Geduld und Liebe reichten mir die Gabe der Zeit dar und ich legte sie auf den Hochaltar des Heiligen Herdes. Die Liebe opferte sich für alles Werk und für die Heiligkeit, die durch den Fall besonders in den vier bestimmenden Grundslebensstrahlen verletzt worden war. So wurde die Heiligkeit in UR besänftigt; denn das von der ‚LIEBE‘ gebrachte Opfer war imstande, den Fall zu bereinigen, die Schöpfungswunde zu heilen, das verlorene Kind heimzuführen und die aus aller UR-Ewigkeit vorgeschaute Vollendung, nämlich die Verbindung zwischen UR und Urkind, glorreichst zu entfalten! Damit war im Reiche selbst der Heilsplan abgeschlossen. —
Zweimal, in langen Zeitepochen, kamen Lichtkinder zur Finsternis. Luzifer trachtete in seinem argen Höllentreiben danach, dem Lichteinfluß einen Riegel vorzuschieben. Die erste Welt zerstob wie einst Sadhanas schöne Sonne Ataräus. Die zweite — eure Erde — war dem Untergang nahe. Doch damit hatte Luzifer nicht gerechnet, daß das Mitopfertum der Kinder eine stärkere Bindung erzielte als seine Zerstörungsmacht groß war. Diese Bindung brachte es mit sich, daß bei einem dritten höllischen Kampf Luzifer selbst sein Wesenreich ganz öffnete und den Dämonen den Erdweg freigab. Er hoffte nunmehr zu erreichen, was ihm vordem mißlungen war: die endgültige Scheidung zwischen sich und dem Licht! Einmal aber das Tor der Menschwerdung aller Hölle aufgetan, konnte Luzifer es nicht wieder verschließen.
Je breiter die Lichtbahn ward, um so breiter mußte notgedrungen das Tor werden, aus dem die finsteren Seelen zur Erde drangen. Und soviel Kinder des Lichtes zur Erde eilen, dem Vater zu dienen, am Erlösungswerk beizutragen, so viele Machtteile verliert Luzifer. Müssen die Lichtkinder auch oft lange Zeit im Banne der Finsternis leben, weil von der Sünde gefangen — auf die Dauer hat die Hölle sie nicht! — Da setzten sich andere vom Reich ein, ihren Brüdern und Schwestern beizustehen; und die Lichthilfe ist groß. Ja, was Menschen halb leichtgläubig, halb oberflächlich aussprechen, es habe jeder Mensch seinen Stern, das ist eine tiefe, verborgene Wahrheit. Die Sterne halten den Weg der Lichtkinder. (Nicht mit der Astrologie Verwechseln!) Auch jeder Luzifergeist hat seinen Stern, nämlich einen des materiellen Schöpfungsteiles, von Reichskindern aber betreut, weil die Armen der Tiefe größter Lichthilfe bedürfen, sollen sie ja gerettet werden. Und alles, alles geeint in UR, dem Ewig-Heiligen, dem Ewig-Einzigen und Wahrhaftigen!
Dieses Einigende, die eine Zahl offenbart sich im ‚HEILAND’, der bald geboren wird. In Ihm sind alle Geschlechter der Erde gezählt. Also ist auch nur ein Name, in welchem alle Seligkeit ruht, durch den alle, so an Ihn Glauben, die große Erlösung erhalten! — Harret darum des Heilandes, der ‚JESUS CHRISTUS’ heißt; empfangt Ihn mit reinem Herzen, mit nur dem einen wahren Sinne, jenem Willen, der lautet:
‚Ich gehöre dem Heiland bedingungslos, Er ist mein Erlöser’!“
—
Die Stimme aus dem Reich verklingt. — Wie gebannt sitzen die fünf Menschen, nicht wissend, wie ihnen geschieht. Sie sehen wirklich den Himmel offen, sein Geheimnis hat sich enthüllt. Und es zittern nicht allein ihre Herzen, Ihre Seelen, auch über den Körper läuft heftiges Erschauern, so gewaltig Ist die Lichtfülle, unter der sie stehen. Da breitet Zuriel seine Hände über sie aus, und alsbald spüren sie eine heilig-sanfte Ruhe. Gabriel bringt ein Schlußwort:
„Nehmt die heilige Offenbarung hin als Zeichen höchster Liebe, die UR als ‚VATER‘ euch sendet. Behaltet alles Gehörte im Herzen, denn niemand um euch ist reif, solches zu ertragen. Die Lichtwahrheit kann nur allmählich den Menschen gekündet werden. Selbst am Ende aller Tage werden es zuerst wenige sein, die tiefer blicken. Wie aber jetzt im kleineren, so einst im großen Maßstabe wir dennoch die ‚Lichtflut‘ über alles Erdreich hereinbrechen, bis das letzte Kronsiegel den Trägern von Ernst und Ordnung, Muriel und Uraniel, zur Hand gegeben werden wird. Dann offenbart sich die Voll-Erlösung! Euch aber sage ich nun zum Schluß drei Worte aus Geduld, Liebe und Barmherzigkeit, die symbolisch mit jenen drei Worten zusammenhängen, die einst das Opfer beschließen. Sie lauten jetzt:
‚Harret des Herrn‘!“
Die Engelsfürsten erheben sich. Zuriel spricht: „Das Licht der Weisheit, die Offenbarung zu erkennen, gebe ich euch im Auftrage eures Gottes. Es ist UR, Dessen noch unbekannter Name auf Erden seit Adam nur ihr gehört habt. Er wird in euren Herzen wieder einschlummern, weil seine Zeit noch nicht gekommen ist. UR ist euer Schöpfer und Priester, euer Gott und Vater ewiglich. Nun wird ER euer HEILAND sein! Sein Friede ist mit euch allen.“
Das Licht verstärkt sich, so daß die Menschen ihre Augen wieder schließen müssen, bis sie durch die Lider spüren, daß es sich entfernt hat. Hoch oben am Firmament sehen sie zwei strahlend helle Gestalten, die sich bald wie ferne Sterne ausnehmen und rasch ihren Blicken enteilen.
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Die Nacht ist vorbei. Über die judäische Berghöhe streicht ein sanfter Wind und am Horizont bildet sich allererstes Frührot. Eine leuchtende Sonne zieht herauf. In ihrem jungen Lichtstrahl hebt Josef die Magd des Herrn, die reine Maria, auf Elisabeths brave, braune Maultierstute. Sorglich geleitet er die Mutter des kommenden Heilandes nach Nazareth.Anita Wolf – Die vier Marksteine – Teil 1 – Die Geburt
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Pura – inkarniert als Maria – ist Trägerin der Eigenschaft der Barmherzigkeit
Gabriel – ist Träger der Eigenschaft der Barmherzigkeit
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